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Toxische Positivität: Warum zwanghafter Optimismus schädlich ist

Eine positive Grundhaltung kann im Umgang mit Problemen helfen, auf Dauer jedoch selbst zu einem werden. Dann nämlich, wenn sie negative Emotionen verdrängt. Weshalb es wichtig ist, Trauer, Wut und Co. zuzulassen und wie man sich von toxischer Positivität löst.

Seine wahren Gefühle hinter einem Lächeln zu verbergen, ist typisch für toxisch positive Menschen.
Foto: G.Tbov/Shutterstock.com

„Glück ist eine Frage der Einstellung“, heißt es so schön. Doch sind Menschen mit einer konstant positiven Denkweise wirklich zufriedener? Im Gegenteil, sagt die Wissenschaft. Studien zufolge verstärken sich negative Gefühle nur, wenn sie unterdrückt werden. Wie der Spagat zwischen gesundem Optimismus und toxischer Positivität gelingt, erklärt Psychologin Muriel Böttger im Interview mit der Nachrichtenagentur spot on news. 

Was genau ist toxische Positivität?  

Muriel Böttger: Damit ist gemeint, dass eine Person zwanghaft versucht, allem positiv zu begegnen und dabei negative Gefühle und Gedanken unterdrückt. „Good vibes only“, auch in schwierigen oder schmerzhaften Situationen. Nur funktioniert dieses Konzept nicht. Tatsächlich macht es sogar unglücklicher, was wissenschaftlich belegt ist. Beispielsweise fand die amerikanische Psychologin Laura Campbell-Sills im Rahmen einer Studie heraus, dass negative Emotionen sich verstärken, wenn wir sie nicht zulassen und fühlen. Außerdem stresst die Abwehr unser ganzes körperliches System und wirkt sich entsprechend negativ auf unsere physische Gesundheit aus.  

Inwiefern unterscheidet sie sich von gesundem Optimismus?   

Böttger: Menschen mit einem gesunden Optimismus blenden negative Emotionen oder Gedanken nicht aus, sondern lassen diese als Teil ihres Erlebens zu. Ein Beispiel: Wenn ich mich bewerbe und zunächst nur Absagen erhalte, fühle ich mich gekränkt, wütend, traurig und unsicher, wie es weitergeht. Mit einer toxisch positiven Haltung würde ich versuchen, all das nicht zu fühlen, sondern mir einreden, dass mich jedes Nein nur noch mehr anspornt. Mit gesundem Optimismus bin ich immer noch enttäuscht und traurig, dass es bisher nicht geklappt hat, schaue aber trotzdem zuversichtlich in die Zukunft und traue mir weiterhin viel zu. Gesunder Optimismus ist also die Kunst, mit negativen Emotionen auf eine konstruktive und zukunftsgewandte Weise umzugehen. Toxische Positivität hingegen verhindert diese für uns Menschen notwendige Bewältigung von negativen Erfahrungen und den daraus resultierenden Emotionen.  

Welche Denkweisen oder Äußerungen sind typisch für toxisch positive Menschen?

Böttger: Da gibt es eine große Auswahl an typischen Sätzen: „Alles wird gut“, „Du musst nur positiv denken“ oder „Ach, das ist doch nicht schlimm“. Sie alle sind wenig empathisch. Menschen mit einer toxisch positiven Haltung schaden mit solchen Aussagen nicht nur sich selbst, sondern stoßen auch andere vor den Kopf. Wenn wir ein Problem haben, suchen wir das Gespräch, weil wir uns mitteilen und in unserem Kummer oder Zweifel gesehen fühlen möchten. Wird das dann vom Gegenüber mit einem lapidaren „Sieh es doch mal positiv“ abgetan, fühlen wir uns nicht ernst genommen. Das verschlechtert auf Dauer die Beziehung zueinander. 

Wann wird eine positive Einstellung zum Problem?  

Böttger: Wenn wir uns dadurch über einen längeren Zeitraum etwas vormachen. Ich komme nochmals auf das Beispiel der beruflichen Herausforderung zurück: Mal angenommen, die Absagen für einen neuen Job dauern an und ich versuche weiter, jeden Zweifel beiseite zu schieben. Dann verhindere ich eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Situation. Nur so kann ich aber erkennen, dass mir vielleicht noch eine Qualifikation fehlt, ich ein zu hohes Gehalt fordere oder bisher ungenügend auf die Interviews vorbereitet war und es deshalb nicht geklappt hat. An dieser Stelle braucht es also eine Einsicht und eine konkrete Handlung anstelle eines „stay positive“. Es ist wichtig, sich Momente des Scheiterns genau anzuschauen, damit wir aus ihnen lernen können.

Dann gibt es noch den Fall, dass wir uns in einer schwierigen Situation befinden und gerade nicht viel daran ändern können. Einige haben das während der Pandemie erlebt. Da hilft kein „Sieh’s mal positiv“. Im Gegenteil, es wäre eine zusätzliche Last, in einer belastenden Situation von sich nur gute Laune zu erwarten. 

Warum ist es wichtig, negative Gefühle zuzulassen und wieso fällt das manchen Menschen schwer?  

Böttger: Alle Emotionen sind wichtig für uns Menschen, denn sie haben alle eine individuelle Aufgabe. Angst beispielsweise möchte uns vor einer Gefahr schützen, Trauer möchte uns vor unerwünschten Veränderungen bewahren. Dennoch ist es natürlich unangenehm, solche Emotionen zu spüren. Deshalb tendieren manche Menschen dazu, sie zu unterdrücken. Das kann so weit führen, dass Gefühle zu einem späteren Zeitpunkt wesentlich intensiver wieder an die Oberfläche kommen und Schäden hinterlassen. Hinzu kommt noch der gesellschaftliche Druck, glücklich zu sein.

Was können wir als Gesellschaft tun, um die Akzeptanz von negativen Emotionen zu fördern?  

Böttger: Meiner Meinung nach ist es am hilfreichsten, wenn wir negative Empfindungen normalisieren. Wenn wir darüber sprechen, wie es uns wirklich geht und wie facettenreich unsere individuelle Gefühlswelt ist, entsteht ein besseres Bewusstsein für das ganze Spektrum an Emotionen. Üben können wir das täglich und auf die Frage „Wie geht’s dir?“ nicht nur mit einem knappen „Gut“, sondern mit einem ausdifferenzierten Gefühl antworten. Natürlich passt das nicht in jeder Situation, aber öfter als wir vielleicht denken. Insbesondere im beruflichen Umfeld ist es inzwischen schon normaler, auch über negative Empfindungen und persönliche Krisen zu sprechen. Das zeigt unter anderem eine repräsentative Studie von Headspace, einem Anbieter für Tools zur Verbesserung der psychischen Gesundheit. 94% der befragten deutschen Arbeitnehmenden geben an, dass ihre Führungskräfte offen über ihre eigene emotionale und mentale Verfassung sprechen. Sehr begrüßenswert, wie ich finde und auf der anderen Seite auch eine Herausforderung für manche. 27% der Befragten geben an, dass sie sich mit dieser Offenheit noch unwohl fühlen.

Wie löst man sich von zwanghaftem Optimismus?  

Böttger: Wie so oft ist die Voraussetzung dafür das eigene Erkennen. Nur wenn ich mir eingestehe, dass ich zwanghaft optimistisch denke und meine negativen Gefühle unterdrücke, kann ich etwas ändern. Das ist natürlich nicht so leicht. Denn ich muss für diese Erkenntnis eine negative Emotion zulassen. Im weiteren Verlauf kann es hilfreich sein, sich Unterstützung bei Freunden, Coaches oder Therapeuten zu suchen. Selbstverständlich haben Menschen, die ihre negativen Gefühle nicht spüren möchten, erstmal gute Gründe dafür. Möglicherweise wurde eine unangenehme Erfahrung nicht ganz verarbeitet. Es ist also von Vorteil, nicht alleine damit zu bleiben. 

Wie gelingt die Balance zwischen Optimismus und Pessimismus? 

Böttger: Das ist eine gute Frage, denn darauf kommt es an. Es soll nicht der Eindruck entstehen, dass eine positive Haltung zum Leben von Nachteil ist. Im Gegenteil, positives Denken in Maßen kann sehr förderlich für unser Wohlbefinden sein, uns Mut machen und stärken. Deshalb empfehle ich, sich in Krisensituationen immer wieder zu fragen: „Was ist das Gute daran?“ So kann man aus einer schwierigen Situation lernen und konstruktiv bleiben. Dem geht aber voraus, dass wir die gefühlte Enttäuschung, Trauer und Wut erstmal annehmen und „durchfühlen“. Um das zu lernen, eignet sich Meditation hervorragend. Es geht bei diesem Training für den Geist darum, aufkommende Gedanken und Gefühle einfach nur wahrzunehmen, weder zu bewerten, noch zu verdrängen. Mit etwas Übung kann es uns so gelingen, eine entspannte Grundhaltung zum Leben einzunehmen und leichter die Balance zwischen Optimismus und Pessimismus zu finden. 

Wie reagiert man in belastenden Situationen richtig? 

Böttger: Der Schlüssel liegt darin, die Situation erstmal als belastend anzunehmen. Also nicht wegrennen vor den Gefühlen, sondern innehalten und die Emotionen zulassen. Je nach Situation und Person bedarf es dafür vielleicht der Unterstützung einer oder eines Vertrauten. Denn wenn wir unsere negativen Empfindungen zulassen, fühlen wir uns manchmal auch ein bisschen roh und verletzlich. Da hilft es, wenn wir in einem geschützten Rahmen sind und auf Verständnis stoßen. Viele Menschen neigen dazu, dann sehr schnell nach Lösungen zu suchen, wie sie die belastende Situation verändern können. Grundsätzlich ist da nichts falsch dran, nur rate ich auch in diesem Schritt zu etwas Geduld und Sanftheit. Statt das Problem mit dem Kopf zu lösen, kann es hilfreich sein, sich erstmal gut um sich zu kümmern. Manche Menschen finden Trost und Klarheit bei einem langen Spaziergang in der Natur, anderen hilft die Geborgenheit ihrer Lieben. Wieder andere bevorzugen den Rückzug und stärken sich mit Entspannungsübungen.

Haben Sie Tipps für den Umgang mit toxisch positiven Menschen? 

Böttger: Ich empfehle, offen zu kommunizieren. Wenn ich mit Sätzen wie „Alles wird gut“ oder „Du musst nur positiv denken“ nichts anfangen kann oder sie mich sogar verletzen, würde ich das aussprechen. Nur so versteht mein Gegenüber, dass ich mir einen anderen Umgang mit meinen Gefühlen wünsche. Wovon ich abraten würde, ist, sich in die Gefühlswelt einer toxisch positiv denkenden Person einzumischen. Ich glaube nicht, dass es zielführend ist, zu sagen: „Jetzt sieh das doch mal negativ.“ Damit würde man nur das Verhalten des Gegenübers spiegeln und sich eine lange Diskussion einhandeln. Lieber bei sich bleiben und darauf achten, die eigene Sprache beizubehalten. Es mag vielleicht etwas Überwindung kosten, aber auch oder gerade in Gegenwart von toxisch positiven Menschen dürfen wir uns die ganze Bandbreite an Gefühlen erlauben. Schlechte Laune, Trauer, Wut und Zweifel inklusive.

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