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MeToo in Frankreich: Bricht die Kinowelt das Schweigen?

Neue Klagen, eine Schauspielerin, die zur Galionsfigur der Opfer sexuellen Missbrauchs wird, und nun ein Hashtag eines Darstellers, der jahrelang sexuelle Übergriffe erlebte. Frankreichs Kinowelt will aufräumen.

Die französische Schauspielerin Judith Godrèche bei der César-Filmpreisvergabe in Paris.
Foto: Michel Euler/AP

Im Jahr 2019 sorgte Adèle Haenel für einen Eklat in der französischen Filmwelt. Sie war die erste Schauspielerin, die sich in Frankreich nach dem Beginn der MeToo-Bewegung offiziell zu Wort meldete, um sexuelle Gewalt anzuprangern. Trotz zahlreicher weiterer Skandale hat Frankreich Schwierigkeiten mit der MeToo-Bewegung gehabt.

Es scheint nun, als ob die Filmindustrie das Schweigen brechen würde. Es gibt Forderungen nach strengerer Kontrolle bei Dreharbeiten mit Minderjährigen – und männliche Missbrauchsopfer melden sich zu Wort.

Seit den Anklagen von Judith Godrèche gegen zwei bekannte Regisseure scheint das Schweigen ein Ende zu nehmen. «Das Bild unserer idealisierten Väter wird beschädigt. Die Macht scheint fast zu schwanken. Könnte es sein, dass wir der Wahrheit ins Auge sehen? Unsere Verantwortung übernehmen?», fragte die Schauspielerin die illustre Kinowelt anlässlich der Vergabe der renommierten César-Filmpreise Ende Februar. Und erklärte weiter: «Ich weiß, es ist beängstigend: Stipendien zu verlieren, Stellen zu verlieren, den Job zu verlieren. Auch ich habe Angst.»

Neue Klagen gegen bekannte Regisseure

Die Schauspielerin hat Anfang Februar Klage gegen die Regisseure Benoît Jacquot («Tagebuch einer Kammerzofe») und Jacques Doillon («Der junge Werther») wegen Missbrauchs einer Minderjährigen unter 15 Jahren eingereicht – und damit eine neue MeToo-Welle ausgelöst: Nun plant auch Isild Le Besco («Sade») rechtliche Schritte gegen die beiden Filmemacher. Mitte Februar wurde eine weitere Klage gegen Gérard Depardieu bekannt, eine von vielen Frauen, die dem Schauspieler sexuelle Übergriffe vorwerfen.

Die Klägerin, eine 53-jährige Dekorateurin, beschuldigt Depardieu, sie bei den Dreharbeiten zum Film «Les Volets verts» (Die grünen Fensterläden) sexuell belästigt zu haben. Gegen Depardieu («Cyrano von Bergerac», «Asterix und Obelix») wird seit 2020 wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung ermittelt.

Hashtag für männliche Missbrauchsopfer

Durch Godrèche motiviert hat Aurélien Wiik den Hashtag «#MeToogarcons» lanciert, unter dem Männer ihre Erlebnisse publik machen können. Zuvor berichtete der 43-jährige Schauspieler in den sozialen Netzwerken, dass er von seinem 11. bis 15. Lebensjahr unter anderem von seinem Agenten misshandelt wurde. Zeitgleich rief Casting-Direktor Stéphane Gaillard dazu auf, unter der E-Mail-Adresse «metooacteur@gmail.com» die Geschichten in absoluter Anonymität zu erzählen.

Der renommierte Filmemacher André Téchiné («Wilde Herzen», «Wir waren Zeugen») und ein Casting-Direktor wurden von Francis Renaud wegen sexuellen Missbrauchs angezeigt. Die Vorfälle sollen sich zwischen 1988 und 2004 ereignet haben. Téchiné, heute 80, hat sich dazu über seine Anwältin in der Zeitung «Le Parisien» geäußert.

„Er bedauert es, ihn durch seine sentimentale, ungeschickte verbale Herangehensweise in Verlegenheit gebracht zu haben. Und weiter: Natürlich hat er sich damals geirrt, als er aufgrund seines Status als Regisseur nicht erkennen konnte, dass ihre Beziehung in den Augen von Renaud nicht auf Augenhöhe war. Andererseits kann er heute nur sein Unverständnis über diese Strafanzeige zum Ausdruck bringen.“

Missbrauchsopfer wird zur Galionsfigur

Godrèche ist zur Galionsfigur einer zweiten MeToo-Welle geworden. Im Oberhaus des französischen Parlaments sprach sie vor der Delegation für Frauenrechte und legte konkrete Vorschläge auf den Tisch. Die 51-Jährige forderte die Einrichtung einer Untersuchungskommission für sexuelle und sexistische Gewalt in der Filmindustrie sowie eine Vorschrift, die einen neutralen Referenten bei Dreharbeiten mit Minderjährigen vorsieht, damit ein Kind niemals allein am Set gelassen werde. Zudem wünschte sie sich «einen Intimitäts-Coach» für Szenen sexueller Natur. Das ist etwa bei US-amerikanischen Drehs inzwischen üblich.

Auch die französische Kulturministerin Rachida Dati fand klare Worte. Kreative Freiheit sei wichtig, aber hier werde nicht über Kunst gesprochen, sondern über Kriminalität, sagte die 58-Jährige, die früher Justizministerin war.

In der langen und bewegenden Rede anlässlich der César-Filmpreisvergabe spielte Godrèche auf ihre Erlebnisse mit Jacquot und Doillon an. Sie sprach von 45 Filmaufnahmen mit zwei ekelhaften Händen an ihren 15 Jahre alten Brüsten und einem Regisseur, der sie flüsternd in sein Bett zerrte, unter dem Vorwand, verstehen zu müssen, wer sie wirklich sei. «Warum sollten wir akzeptieren, dass diese Kunst, die wir so sehr lieben, diese Kunst, die uns verbindet, als Deckmantel für den illegalen Handel mit jungen Mädchen genutzt wird?», fragte sie das Publikum.

Die Missbrauchsvorfälle gegen Godrèche sollen sich zwischen 1986 und 1992 ereignet haben. Gegen Jacquot, der mit ihr eine sechsjährige Beziehung führte, die sie «die Geschichte eines entführten Kindes» nennt, wurden Vorermittlungen eingeleitet. Der heute 77-Jährige sagt, dass seine Beziehung zu Godrèche eine einvernehmliche Liebesgeschichte gewesen sei. Jacquot war damals 40, Godrèche 14.

Er glaubt, Opfer einer großen «Kommunikationsoperation» der Schauspielerin und Regisseurin zu sein, um für ihre auf Arte verfügbaren Serie «Icon of French Cinema» aufmerksam zu machen. Doillon will gegen Godrèche wegen Rufmordes vorgehen. Sein neuer Film «CE2», der am 27. März hätte erscheinen sollen, wurde bis auf Weiteres verschoben.

dpa