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Rätselhafte Corona-Folge – vermehrt frühe Pubertät

Der Sturm der Pubertät trifft Kinder heutzutage deutlich früher als noch vor Jahrzehnten. In der Pandemie stieg die Zahl verfrüht Pubertierender noch einmal deutlich. Woran das liegt, ist unklar.

Was bedeutet eine nach den aktuellen medizinischen Leitlinien zu früh einsetzende Pubertät für ein Kind?
Foto: Julian Stratenschulte/dpa

Über eine im Mittel immer früher einsetzende Pubertät berichten Mediziner schon seit einigen Jahrzehnten. Die Corona-Pandemie hat diesen Effekt noch deutlich verstärkt. «Es wurden 20 bis 30 Prozent mehr Fälle verfrühter Pubertät erfasst», sagt Bettina Gohlke von der Universitätskinderklinik Bonn. Das Phänomen sei weltweit aufgefallen, entsprechende Daten gebe es aus Europa ebenso wie aus den USA und China. 

Die Entwicklung äußerer Sexualmerkmale bei Jungen vor dem vollendeten 9. und bei Mädchen vor dem vollendeten 8. Lebensjahr wird als verfrühte Pubertät – Pubertas praecox genannt. Bei den Mädchen entwickelt sich dann unter anderem die Brust – eine Vermutung zum Corona-Effekt war, dass die frühere Entwicklung den Eltern eher auffiel, weil sie im Zuge von Schulschließungen und Homeoffice mehr Zeit mit ihren Kindern verbrachten.

Mögliche Ursachen für die Zunahme

Möglich sei auch ein Zusammenhang mit höherer psychosozialer Belastung, erklärt Kinderendokrinologin Gohlke. Frühere Studien hätten ergeben, dass Kinder in solchen Situationen körperlich früher reifen. Diskutiert werde zudem ein Gewichtseffekt: Viele Kinder aßen in der Pandemie mehr beziehungsweise bewegten sich merklich weniger – und Übergewicht gilt als einer der wichtigsten Faktoren für eine früh einsetzende Pubertät.

«Aber auch, wenn das Gewicht herausgerechnet wurde, blieb ein Plus an Fällen von Pubertas praecox», sagt Gohlke. «Vermutlich handelt es sich um einen multifaktoriellen Effekt.» Unklar sei bisher, ob er sich mit dem Abklingen der Pandemie wieder verflüchtige.

Biologische Grundlagen der Pubertät

Laut dem Münchner Endokrinologen Günter Stalla beginnt die Pubertät biologisch gesehen mit der vermehrten Produktion von Geschlechtshormonen. Bei Jungen vergrößern sich daher die Hoden und der Hodensack, gefolgt von einer Verlängerung des Penis. Es wachsen Scham- und Achselhaare. Bei Mädchen entwickeln sich die Brüste, kurz darauf beginnt die Scham- und Achselbehaarung zu wachsen, Jahre später folgt die erste Regelblutung.

Laut Daten eines Forschungsteams um Gohlke hat sich das durchschnittliche Alter bei Pubertätsbeginn bei Mädchen seit den 70er-Jahren um etwa drei Monate pro Jahrzehnt verringert. Bei Jungen ist die Entwicklung ähnlich. Das Alter am Pubertätsende hat sich in den letzten 50 Jahren jedoch nicht verändert – die Pubertät dauert also im Durchschnitt länger als früher. Das durchschnittliche Alter bei der ersten Regelblutung hat sich kaum verändert.

Einflüsse auf den Pubertätsbeginn

Grundsätzlich sei insbesondere genetisch festgelegt, wann die Hormonausschüttung und damit die Pubertätsmaschinerie anspringe, erklärt der Hamburger Endokrinologe Stephan Petersenn. Einfluss haben jedoch auch Faktoren wie anhaltende psychische Belastung und Ernährung. Übergewicht gilt als maßgeblich für die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte: Im Fettgewebe entstehe dann vermehrt der Botenstoff Leptin, der die Pubertät vorantreibe, so Petersenn, Mediensprecher der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE). Je dicker ein Kind, desto früher entwickelt es sich also zum Erwachsenen.

Das Einsetzen der Pubertät hänge also immer auch mit dem Lebensstandard in der Gesellschaft zusammen, so Petersenn. Es sei gut vorstellbar, dass es auch in der Vergangenheit immer wieder deutliche Schwankungen beim Startalter gegeben habe. Aktuell treffe eine verfrühte Pubertät Kinder aus sozial schwächeren Familien anteilig häufiger, weil sie öfter übergewichtig seien, sagt Stalla, ehemaliger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie. «Gesundheit hängt von sozialem Status und Bildung ab, das zeigt sich auch hier.»

«Das Problem ist der Mangel an Studien»

Einfluss hat nach Annahme vieler Experten neben Übergewicht auch, dass Kinder heutzutage einem ganzen Cocktail hormonell wirkender Substanzen ausgesetzt sind. «Es ist sehr wahrscheinlich, dass das Einfluss hat», betont Gohlke. Auch Stalla und Petersenn sehen klare Anzeichen dafür. «Das Problem ist der Mangel an Studien», erklärt Gohlke. Aus Tierversuchen ließen sich nur bedingt Rückschlüsse ziehen, klinische Studien am Menschen seien in dem Bereich nicht möglich. 

Was bedeutet eine nach den aktuellen medizinischen Leitlinien zu früh einsetzende Pubertät für ein Kind? «Die einsetzende Pubertät ist ein Wachstumsbeschleuniger», erklärt Stalla. Vorzeitig pubertierende Kinder schießen also zunächst rascher in die Höhe – doch es gibt bei ihnen einen gegenläufigen Prozess, der zur Folge hat, dass sie im Mittel letztlich kleiner bleiben als später in die Pubertät startende. Die Sexualhormone, die das Wachstum zunächst beschleunigen, sorgen auch dafür, dass es verfrüht endet, indem die Wachstumsfugen geschlossen werden. 

Möglichkeiten zur Verzögerung der Pubertät

Neben solchen körperlichen Folgen kann es psychische geben, wie Petersenn sagt. Und das nicht nur deshalb, weil Kinder sich zum Beispiel für Brustwachstum oder Behaarung schämten: Mit einsetzender Pubertät veränderten sich auch die Art zu denken und die Gefühlswelt, was zu Problemen im Freundeskreis führen könne, erklärt Petersenn. «Man reift früher zu erwachsenem Denken heran.»

Diskutiert werden unter Experten auch mögliche Langzeitfolgen wie ein höheres Risiko für bestimmte Krankheiten – gesicherte Erkenntnisse fehlen aber. «Richtig gute Daten zu Langzeitfolgen gibt es nicht», sagt Gohlke. 

Der vorzeitige Beginn der Pubertät kann gestoppt werden – durch die Injektion synthetischer Botenstoffe, die alle drei Monate die Produktion von Sexualhormonen stoppen. Laut Gohlkes Erfahrung entscheiden sich bei Mädchen, die im Alter von sieben bis siebeneinhalb Jahren in die Pubertät eintreten, etwa die Hälfte der Kinder oder Eltern gegen eine solche Therapie. Die Diagnose kann jedoch einige Eltern oder das Kind selbst stark belasten.

Die Medizinerin erklärt, dass die Therapie für das Größenwachstum keine Rolle mehr spielt. Sie müsse jedoch vor dem sechsten Lebensjahr beginnen, um effektiv zu sein. Solche Fälle seien jedoch selten.

dpa