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Deutsche Wahlrechtsreform erneut vor Bundesverfassungsgericht

Neue Regelungen zur Mandatsvergabe und Überhangmandaten sorgen für hitzige Diskussionen und Klagen.

Das neue Wahlrecht deckelt die Sitzzahl im Bundestag bei 630 Abgeordneten.
Foto: Michael Kappeler/dpa

Das Thema Bundestagswahlrecht bleibt in Karlsruhe aktuell. Ende November 2023 hat das Bundesverfassungsgericht ein Urteil dazu gefällt, und nun muss es erneut darüber entscheiden. Damals wurde die veraltete Wahlrechtsreform der großen Koalition von 2020 überprüft. Nun geht es um die umfassendere Reform der Ampel-Koalition aus dem letzten Jahr.

Warum wurde das Wahlrecht schon wieder geändert?

Die Wahlrechtsreform, die 2020 von der großen Koalition aus CDU/CSU und SPD verabschiedet wurde, hat nicht das gewünschte Ergebnis erzielt – eine Verkleinerung des Bundestags. Trotz Spott von Kritikern gelang es lediglich, den Anstieg der Abgeordnetenzahl zu verlangsamen. Bei der Wahl 2021 wuchs der Bundestag von 709 auf 736 Abgeordnete an und bleibt somit das größte frei gewählte Parlament weltweit.

Wie hat die neue Reform das Wahlrecht geändert?

Im vergangenen Jahr wurde das neue Wahlrecht beschlossen, das die Sitzzahl auf 630 begrenzt und weiterhin mit Erst- und Zweitstimme gewählt wird. Es gibt jedoch keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr. Überhangmandate entstanden bisher, wenn eine Partei mehr Direktmandate im Bundestag gewann, als ihr Sitze nach dem Zweitstimmenergebnis zustanden. Diese Überhangmandate durfte sie behalten, während die anderen Parteien Ausgleichsmandate erhielten. Dies führte zu einer stetigen Vergrößerung des Bundestags. Zukünftig ist allein das Zweitstimmenergebnis für die Zahl der Sitze einer Partei im Parlament entscheidend.

Die Grundmandatsklausel entfällt ebenfalls. Bisher zogen Parteien, die unter der Fünf-Prozent-Hürde lagen, auch dann mit der Stärke ihres Zweitstimmenergebnisses in den Bundestag ein, wenn sie mindestens drei Direktmandate gewonnen hatten.

Was stört die Kläger an diesen Regelungen?

In Zukunft wird jede Partei nur noch so viele Mandate erhalten, wie ihr nach ihrem Zweitstimmenergebnis zustehen – auch wenn sie mehr Direktmandate gewonnen hat. Die Wahlkreisgewinner mit dem schlechtesten Erststimmenergebnis gehen dann leer aus. Dies wird insbesondere von der CSU, aber auch von der CDU kritisiert.

Der Grund ist einfach: Bei der Bundestagswahl 2021 hat die CSU 45 Direktmandate gewonnen, aber nur 5,2 Prozent der Zweitstimmen bundesweit erhalten. Dadurch erhielt sie 11 Überhangmandate, die sie nach dem neuen Wahlrecht nicht mehr erhalten würde. Weitere 12 Überhangmandate wurden von der CDU in Baden-Württemberg erlangt. Insgesamt waren dies 23 von 34 Überhangmandaten, die wiederum zu 104 Ausgleichsmandaten führten.

Laufen nur CDU und CSU gegen die Reform Sturm? 

Nein. Auch die Linke ist empört über den Wegfall der Grundmandatsklausel, da sie bisher besonders davon profitiert hat. Bei der Bundestagswahl 2021 erhielt sie zwar nur 4,9 Prozent der Zweitstimmen, aber Gregor Gysi (Berlin), Gesine Lötzsch (Berlin) und Sören Pellmann (Leipzig) gewannen jeweils ein Direktmandat – und die Linke zog mit 39 Abgeordneten in den Bundestag ein. Bei der Wahl 1994 erhielt die Vorgängerpartei der Linken, die PDS, sogar nur 4,4 Prozent der Zweitstimmen. Aber dank vier gewonnener Direktmandate in Berlin erhielt sie 30 Sitze im Bundestag.

Es könnte besonders unglücklich für die CSU enden. Sollte sie bundesweit unter die Fünf-Prozent-Marke fallen, würde sie nach dem neuen Wahlrecht aus dem Bundestag fliegen – selbst wenn sie erneut die meisten Wahlkreise in Bayern direkt gewinnen würde.

Wer klagt eigentlich in Karlsruhe?

Es wird über zwei Normenkontrollverfahren (195 Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, bayerische Staatsregierung), drei Organstreitverfahren (CSU, Linke, Linke-Bundestagsfraktion) und zwei Verfassungsbeschwerdeverfahren (mehr als 4000 Privatpersonen, Bundestagsabgeordnete der Linken mit über 200 weiteren Privatpersonen) verhandelt.

Während eines Normenkontrollverfahrens wird überprüft, ob ein Gesetz mit dem Grundgesetz übereinstimmt. Das Organstreitverfahren bezieht sich auf eine Auseinandersetzung zwischen den höchsten Bundesorganen oder diesen gleichgestellten Beteiligten über ihre Rechte und Pflichten gemäß dem Grundgesetz. Auch einzelne Bundestagsabgeordnete und politische Parteien sind antragsberechtigt. Eine Verfassungsbeschwerde kann von jeder Person erhoben werden, die behauptet, dass ihr durch staatliche Gewalt ein Grundrecht oder bestimmte Artikel des Grundgesetzes verletzt wurden.

Welche ihrer Rechte sehen die Kläger verletzt?

Laut Bundesverfassungsgericht fühlen sich die Antragsteller und Beschwerdeführer insbesondere in zwei Grundrechten verletzt: bei der Wahlrechtsgleichheit nach Artikel 38 Grundgesetz und beim Recht auf Chancengleichheit der Parteien nach Artikel 21 Grundgesetz.

Wann ist mit einem Urteil zu rechnen?

Das ist noch nicht entschieden. Das Bundesverfassungsgericht kann sich jedoch nicht allzu lange Zeit lassen. Die nächste Bundestagswahl findet regulär im Herbst des kommenden Jahres statt. Die Venedig-Kommission des Europarats hat in einem Verhaltenskodex festgelegt, dass etwa ein Jahr vor einer Wahl die Regeln feststehen sollten. Somit müsste spätestens direkt nach der parlamentarischen Sommerpause ein Urteil verkündet werden.

Die Kommission, die Staaten in Verfassungsfragen einschließlich des Wahlrechts berät, hat das neue deutsche Wahlrecht im Juni des letzten Jahres überprüft. Sie kam zu dem Schluss, dass die Reform den internationalen Wahlrechtsstandards entspricht. Es wurde jedoch kritisch angemerkt, dass eine breite Unterstützung über die Parteigrenzen hinweg fehlt.

Wie könnte ein Urteil aussehen?

Es ist unmöglich, dies vorauszusagen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte keine verfassungsrechtlichen Bedenken und unterzeichnete daher das Gesetz. Das Bundespräsidialamt betonte, dass der Gesetzgeber gemäß dem Grundgesetz und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei der Gestaltung des Wahlrechts sehr frei sei. Dies ist zwar richtig. Dennoch ist das Wahlrecht auch vor dem höchsten deutschen Gericht ein kontroverses Thema, wie das Urteil zur Reform der großen Koalition im November letzten Jahres zeigte: Es wurde mit fünf zu drei Richterstimmen knapp gefällt.

dpa