Kitty Steiner könnte das Cover einer Mode-Illustrierten aus den 1960er Jahren zieren. Auch daheim und in ihrem Friseursalon scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Was macht Retro so reizvoll?
60er-Leben mit Röhrenfernseher und Wählscheibentelefon
Ihr Outfit ist komplett im Stil der 60er Jahre gehalten, mit bunten Kleidern, auffälligen Accessoires und einer aufwendigen Frisur – genau wie es damals bei den Frauen vor etwa 60 Jahren üblich war.
Kitty Steiner lebt im Stil ihres bevorzugten Jahrzehnts. Sie würde sich perfekt auf dem Cover einer Modezeitschrift aus der Mitte des letzten Jahrhunderts machen.
Wer die 41-Jährige zu Hause in Gelsenkirchen oder in ihrem Friseursalon in Düsseldorf besucht, hat das Gefühl, in die Vergangenheit zu reisen.
Einrichtung, Möbel, Küchengeräte, Deko aus alten Zeiten
Vor allem die 1960er, aber auch die 50er Jahre haben es ihr angetan, sind ihr Lebensthema. «Mir gefällt die Kleidung, die Frisuren – also quasi die Optik der Frauen, das Klassische, das Schöne. Ich mag gerne die Möbel, Design aus der Zeit, die Farbgebung, die Formgebung», erzählt Kitty Steiner.
Und das spiegelt sich in jedem Bereich ihres Hauses wider: Möbel, Elektrogeräte, Tapeten, Lampen, Bilder, sogar das Wasserklosett mit Metallkette stammen aus einer längst vergangenen Zeit.
Die Küche ist vollständig in leuchtenden Pastelltönen gehalten und stammt original aus den 50ern. Warmes Wasser kommt aus dem Boiler. Induktionsherd? Nö. Kitty Steiner kocht auf einem Schätzchen Baujahr 1958/59 – und schwört auf das gute alte Teil.
Beim Betrachten von Regalen und Schränken wird deutlich: Neben Bügeleisen oder Staubsauger sind auch zahlreiche kleine Gegenstände – Dosen, Verpackungen – antike Originale. Fast alle Gegenstände haben bereits viele Jahrzehnte hinter sich.
Alte Flimmerkiste und Oldtimer
Ein Festnetztelefon mit Wählscheibe oder ein alter Schwarz-Weiß-Fernseher sind Teil der Ausstattung. Die Kleiderschränke sind überfüllt mit Kleidung aus den 60er Jahren in Gelb, Grün oder Pink, die durch die Glasfronten leuchten. Dazu stapeln sich passende Schuhe, Hüte und Modeschmuck.
Beatles und Katja Ebstein waren Antrieb
Schon als Kind – aufgewachsen in Sachsen – habe sie begeistert alte Schallplatten ihrer Eltern auf Omas Plattenspieler hören dürfen – Katja Ebstein, die Beatles oder Shakin‘ Stevens. «Das war so der Grundstein in diese Richtung.» Aus dem Sperrmüll habe sie als Kind alte Stücke zum Spielen und Sammeln gefischt.
Zur Arbeit tuckert die Friseurmeisterin im VW-Käfer – natürlich mit Oldtimer-Kennzeichen. Manche Alltagstätigkeiten dauern für sie länger, erzählt Kitty Steiner. Das gefällt ihr. «Es ist ein wenig entschleunigend.»
Die fröhliche 41-Jährige spricht von einem Lebensthema, sieht es als Hobby. Sie habe damit viel Freude. Und: «Das ist für mich Ausgleich. Ich bin entspannt dadurch.»
Was sehen Forscher hinter Retro-Trend und Nostalgiewelle?
«Die Leute versuchen, sich bewusst ein bisschen aus der zeitgenössischen krisengeplagten Realität herauszukatapultieren», sagt Trendforscher Eike Wenzel. Im Fachjargon: «Das ist Eskapismus.» Retro-Trends gebe es in allen Zeitstufen zurück bis in die 1950er Jahre. Unter den Jüngeren könne auch schon beim Blick auf die Nullerjahre Nostalgie aufkommen.
Zentraler Faktor: «Es macht vielen Menschen einfach Spaß, in eine andere Zeit einzutauchen. Es ist cool, sich in vergangene Jahrzehnte zu versetzen. Man möchte die eigene Jugend nacherleben oder die der Eltern.»
Auch die 80er und 90er sind bei Retro-Fans gefragt
Die 60er scheinen besonders gefragt, beobachtet der Leiter des Instituts für Trend- und Zukunftsforschung. Warum? «Das Wirtschaftswachstum war da schon stabil, Wissenschaft und Forschung machten enorme Fortschritte, es gab noch keinen Klimawandel und man konnte positiv in die Zukunft blicken.» Aktuell gebe es aber auch einen Hype um die 80er und 90er.
Laut Forscher Wenzel könnte eine Welle der Nostalgie auch eine Reaktion auf die Komplexität des modernen Lebens sein – unabhängig vom Alter. Allerdings leben die Menschen nur selten tatsächlich so wie in der Vergangenheit, deren Stil sie übernehmen, Fahrzeuge sie benutzen oder Möbel sie kaufen.
Kitty Steiner lebt mit Handy und Co. im Hier und Jetzt
Kitty Steiner kann auch nicht auf Handy, Laptop und Internet verzichten. Sie benötigt diese für den Friseursalon oder um sich neue alte Sachen online zu kaufen oder zu ersteigern.
Und ihr Mann Thomas Bosbich – 50er-Jahre-Fan – kommt nicht ohne Flachbild-TV aus. «Es gibt ein modernes Gerät und das lass‘ ich mir auch nicht nehmen», schmunzelt er. Auch wenn er den Flachbildschirm schon sehr hässlich findet.
Übers Internet werden reichlich Möbel und Mode im Vintage-Look angeboten. Denn «Retro-Trends sind immer auch Konsumtrends», weiß Experte Wenzel. Und auf Social-Media-Kanälen ist so mancher Retro-Influencer unterwegs.
So zeigt sich beispielsweise die 26-jährige Shirin Altsohn (@Shirinatra) auf Instagram mit 1,2 Millionen Followern – in romantischen Vintage-Bildern mit schwingenden Röcken, Wespentaille und bunten Hütchen aus vergangenen Zeiten.
Kundinnen sind ebenfalls 60er-Fans
Im Friseursalon von Kitty ist alles aus den 60ern, von der Trockenhaube bis zum Kaffeetässchen. Besonders die Frisuren. Es wird aufwendig toupiert, während alte Schlager aus dem rosa Transistorradio dudeln.
Ihren Kundinnen türme sie die Haare gerne zur damals gefragten «Banane» oder zum «Bienenkörbchen» auf, berichtet Kitty Steiner.
Kundin Silke Schwarz gefällt’s: «Sicherlich sind die Frisuren auf eine gewisse Art und Weise voll out. Wir lieben und leben das aber.» Das Ganze habe mehr Klasse, mehr Eleganz, mehr Stil, findet sie. Es gebe nur wenige Menschen, die solche alten Schnitte handwerklich richtig gut meistern könnten, findet Schwarz. «Für uns und unsere Szene auch ein Stück weit einzigartig.»
Ein «Aber» zum Schluss
Kitty Steiner liebt den Style der 60er, mag den Lebensstil – kopiert aber die Einstellungen von damals nicht. «Ich lebe im Hier und Jetzt», betont die 41-Jährige. Auch bei der Rollenverteilung daheim herrsche ausdrücklich Gegenwart. «Wir leben eine neuzeitliche Ehe, wir sind gleichberechtigt.»