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Erst Corona, dann Inflation: Essen Kinder ungesünder?

An Rezepten für eine gesunde und günstige Ernährung von Familien mangelt es nicht. Aber können Menschen mit geringem Einkommen sie in diesen Zeiten umsetzen?

Die Preise für Obst und Gemüse sind deutlich gestiegen.
Foto: Hauke-Christian Dittrich/dpa

«Wir erleben Hunger.» Seit etwa einem Jahr, seit Kriegsbeginn und der hohen Inflation, habe sich die Essensproblematik verschärft, sagt Wolfgang Büscher. Er ist Sprecher der Arche, einem Verein mit kostenlosen Angeboten für Kinder aus sozial benachteiligten Verhältnissen.

In Berlin sei es «extrem», aber das Problem gebe es auch an den anderen der knapp 30 Standorte in Deutschland. Büscher erzählt von Kindern, die ohne Frühstück in der Schule gewesen seien und ausgehungert in die Einrichtungen kämen. Und von Müttern, die aufs Mittagessen verzichten, damit ihre Kinder abends satt werden.

Lange Schlangen bei der Lebensmittelausgabe

Die Schlange bei der Lebensmittelausgabe der Arche in Berlin-Hellersdorf ist sehr, sehr lang. 650 Familien seien zuletzt da gewesen, 1000 fürs nächste Mal angemeldet, sagt Büscher. Insbesondere die gestiegenen Preise für Grundnahrungsmittel wie Brot, Mehl und Öl seien herausfordernd. «Die Familien kaufen ja schon das Billigste vom Billigen», sagt er. Und trotzdem reiche es nicht. Er betont, keineswegs nur von Menschen mit ausländischen Wurzeln zu sprechen.

Auch wenn gesunde Ernährung für viele Organisationen hierzulande seit Jahrzehnten ein Thema ist: Für Menschen mit geringen Einkommen dürfte es durch die Preissteigerungen noch schwerer geworden sein, sich ausgewogen zu ernähren. Wenn der Preis ausschlaggebend ist und man auch noch unter Stress steht, drohen aus Expertensicht vermehrt zu zuckrige, zu salzige, zu fettige Produkte auf den Tellern zu landen. Zwar mangelt es dazu noch an aktuellen Daten. Vor dem Tag der gesunden Ernährung am Dienstag sehen Fachleute aus Wissenschaft und verschiedene Organisationen jedoch Alarmsignale.

Wie sollte die Ernährung idealerweise aussehen? Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt, abwechslungsreich zu essen, also nicht jeden Tag das Gleiche. Obst und Gemüse sollen laut den zehn DGE-Ernährungsregeln täglich verzehrt werden: mindestens fünf Portionen. Daneben: zum Beispiel Vollkornbrot und täglich Milchprodukte. Pflanzliche Fette seien gesünder als tierische. Fleisch und Fisch brauche man nur ein- bis zweimal pro Woche und dann nicht so viel davon. Sparsam sein soll man auch bei Zucker und Salz.

EKFZ: Ernährungssituation durch Inflation verschlechtert

«Ganz sicher» habe sich die Ernährungssituation insbesondere von einkommensschwachen Familien durch die Inflation verschlechtert, sagt Hans Hauner, Direktor des Else Kröner-Fresenius-Zentrums für Ernährungsmedizin (EKFZ) an der TU München. Und die betroffene Gruppe sei vermutlich seit Kriegsbeginn gewachsen. Anzeichen für eine Verschlechterung der Lage sieht Hauner unter anderem in Berichten über Rückgänge beim Kauf von Obst und Gemüse sowie Bio-Lebensmitteln und im hohen Zulauf bei den Tafeln.

Hauner sieht seine Vermutung zudem durch eigene Surveys zur Corona-Pandemie gestützt. Dadurch habe sich die gesundheitliche Ungleichheit in Deutschland weiter verschärft. Bewegungsmangel und Gewichtszunahme seien nicht in allen Gruppen ein temporäres Phänomen gewesen. Teils hätten sich negative Tendenzen verfestigt, etwa bei Kindern aus einkommensschwachen Familien und Kindern, die schon vorher übergewichtig waren. Das drohe sich in der gegenwärtigen Krise fortzusetzen.

Nach Befragungen schätzt das Robert Koch-Institut (RKI) den Einfluss der Pandemie auf das Ernährungsverhalten von Kindern und Jugendlichen zwar insgesamt als gering ein – und sieht teils sogar positive Effekte. Zum Beispiel sei mehr zu Hause gekocht worden. Über Haushalte mit geringem Einkommen heißt es jedoch, dass Kinder und Jugendliche deutlicher seltener die Schulverpflegung nutzen, seltener Obst essen und häufiger zuckerhaltige Erfrischungsgetränke trinken.

Unklar, wie viele von Ernährungsarmut betroffen sind

Wie viele Menschen in Deutschland von sogenannter Ernährungsarmut betroffen sind, wisse man mangels systematischer Erhebungen nicht, sagt Lena Volk vom Institut für Ernährungsverhalten des Max Rubner-Instituts (MRI). Betroffen seien oft etwa Erwerbslose, Alleinerziehende, Familien mit mehr als zwei Kindern, Menschen mit niedriger Qualifikation oder mit Migrationshintergrund, also generell von Armut Bedrohte. Jedoch liege es nicht nur am Geldbeutel, ob Menschen sich gesund ernähren können. «Der Bildungsstand ist entscheidender als die finanzielle Situation.» Volk meint etwa Wissen über gesunde Ernährung oder über das Haushalten mit Vorräten.

«Es lässt sich nicht pauschal sagen, wie ein armer Haushalt isst», sagt Volk. Es gebe dabei auch einen Zeitfaktor: Haushalte, die schon länger in Armut leben, ernährten sich eher ungünstig. Wegen zeit- und kraftraubender anderer Probleme habe das Thema oft nicht Priorität. Es gehe primär um Sättigung. In einer Studie zur Ernährung armer Haushalte von 2002 ist zu lesen: «Gesundheit rückt erst dann in den Mittelpunkt der Betrachtung, wenn ein Familienmitglied krank wird.»

Kinder besonders betroffen

Gesundheitliche Folgen von Ernährungsarmut betreffen – neben älteren Menschen – in besonderem Maße Kinder: «Man spricht bei ihnen von verborgenem Hunger, wenn Vitamine und Mineralstoffe fehlen, obwohl ausreichend Kalorien aufgenommen wurden», sagt Volk. Die Kalorien stammen dann etwa aus süßer Limo oder nährstoffarmem Fast Food. Eine mögliche Konsequenz sind etwa Wachstumsstörungen. «Eine ungünstige Ernährung in der Kindheit bleibt oft im Erwachsenenleben bestehen.»

Hauner fürchtet bleibende Folgen für das Gesundheitssystem durch Krankheiten wie Adipositas und Diabetes. «Der Staat hat trotz der extremen Preissteigerungen bei Lebensmitteln nicht gehandelt. Dabei ist offensichtlich, dass mit den Regelsätzen kaum eine vernünftige Ernährung möglich ist», kritisiert er. Und betont, dass eine Mehrwertsteuerbefreiung für Obst, Gemüse und Vollkornprodukte auch jetzt noch nützlich wäre. Die Kosten gesunder Ernährung zu berechnen und in den Regelsatz des Bürgergelds einzupreisen, fordert Luise Molling von der Verbraucherschutzorganisation Foodwatch.

Bei der Arche bekommen Mitarbeiter unterdessen ernährungsbedingte gesundheitliche Probleme hautnah mit, wie Büscher sagt. Ein Beispiel seien schlechte Zähne. Werde da nichts unternommen, erschwere das später die Jobsuche. Ein Teufelskreis.

In den Paketen der Arche finden die Menschen überwiegend haltbare Grundnahrungsmittel, etwa Brot und Konserven. Klar, Süßes kommt gut an. In der Schlange in Hellersdorf erzählt eine Frau aus der Ukraine: Am meisten hätten sich ihre Kinder über ein Glas Nutella gefreut.

dpa