Trainer Koeman unter Druck, Erwartungen hoch, van Dijk fordert Leistungssteigerung für besonderes Turnier
Druck auf Oranje: Niederlande vor entscheidender Phase
Vor einer Woche hätte sich jeder in den Niederlanden über diese EM-Konstellation gefreut. Der Europameister von 1988 übersteht die schwere Vorrundengruppe mit Vize-Weltmeister Frankreich und Geheimfavorit Österreich und trifft im Achtelfinale nur auf den Außenseiter Rumänien (Dienstag, 18.00 Uhr/ARD und MagentaTV).
Sollte das auch am Dienstag in München gelingen, zeigt der Turnierbaum weiterhin seine Gunst für Oranje: Im Viertelfinale würden erneut Österreich oder die Türkei als mögliche Gegner warten. Im Halbfinale stünden schwächelnde Engländer oder die Schweiz auf dem Spielplan. Niemand kann behaupten, dass die große Fußballnation Niederlande ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird.
Koeman noch der Richtige?
Dieser Anspruch ist jedoch offensichtlich ein Teil des Problems. Vor dem Beginn der K.-o.-Runde wird Trainer Ronald Koeman wieder jeden Tag daran erinnert, dass er einen der anspruchsvollsten Jobs der Fußball-Welt hat. Seit der 2:3-Niederlage im letzten Gruppenspiel gegen Österreich hat sich die anfänglich optimistische EM-Stimmung im Heimatland ins Gegenteil verkehrt.
Bereits während der Pressekonferenz nach diesem enttäuschenden Auftritt wurde Koeman direkt gefragt, ob er als Bondscoach noch haltbar sei. «Ich denke, dass das keine Frage für jetzt ist», antwortete der EM-Held von 1988. «Es ist erst die Vorrunde vorbei. Wir haben noch eine Chance. Wenn das nicht klappt, können Sie die Frage noch einmal stellen.»
In dieser Stimmung betreten die Niederländer nun die entscheidende Phase des Turniers. Die Frage lautet: Woher kommt dieser immense Druck? Warum haben in den letzten 25 Jahren elf verschiedene Nationaltrainer das Amt innegehabt, darunter Koeman, Louis van Gaal und Dick Advocaat, die mehrere Amtszeiten erlebten? Und warum ändert sich die Stimmung so schnell bei einer Mannschaft, die bereits seit einiger Zeit auf Spieler von der Qualität eines Marco van Basten, Dennis Bergkamp oder Arjen Robben verzichten muss?
Experte Wormuth
Frank Wormuth war zehn Jahre lang für die Trainerausbildung des Deutschen Fußball-Bundes verantwortlich, bevor er 2018 in die Niederlande wechselte. Dort trainierte er die Erstligavereine Heracles Almelo und FC Groningen und lebt noch heute in der Nähe von Nijmegen. Nach der EM 2021 wurde er als potenzieller neuer Bondscoach gehandelt, jedoch wurde letztendlich zum dritten Mal van Gaal ernannt.
Über die Erwartungshaltung in seiner Wahlheimat sagt er: «Ja, es gibt in den Niederlanden diese Kritik: am planlosen Spiel. Dass dort keine Mannschaft auf dem Platz steht.» Aber die könne er auch verstehen.
«Diese Mannschaft ist gut», sagt Wormuth: «Van Dijk spielt in Liverpool. Aké spielt bei Manchester City. Gakpo auch bei Liverpool. Und Frimpong ist gerade deutscher Meister geworden. Wenn die als Team auftreten und einer für den anderen laufen würden, wären sie definitiv ein Kandidat für die besten Vier des Turniers. Oder sogar für das Finale.» So aber bilden die stimmungsvollen Auftritte der Fans und die biederen Leistungen des Teams bei dieser EM bislang einen starken Kontrast.
De-Jong-Ausfall tut weh
Diese starken Ausschläge haben für Wormuth zwei Gründe: einen rein sportlichen und einen gesellschaftlichen. «Die eigentliche Herausforderung ist der Ausfall von Frenkie de Jong», sagt er über den verletzten Mittelfeldspieler des FC Barcelona. «De Jong ist eine Art Kroos von Holland, der Spielgestalter schlechthin.»
Und dann beschreibt der 63-Jährige noch aus eigener Erfahrung: «Es gibt in den Niederlanden kein ausgeprägtes Hierarchiedenken, wie wir es in Deutschland kennen.» Im Alltagsleben nicht. Und in einem Fußballteam schon gar nicht.
«Spieler diskutieren sehr viel. Wollen ständig ihre Meinung äußern», sagt Wormuth. «Das hat gesellschaftlich viele gute Seiten. Aber wenn im Fußball zu viele Leute mitreden, wird es schwierig.» Das habe er in den Niederlanden «am Anfang etwas unterschätzt. Da wollte mir auch der Physiotherapeut sagen, was ich zu tun habe.» Aber das lässt die Diskussionen manchmal auch größer wirken, als sie sind.
Kapitän Virgil van Dijk hat die Kritik nach der EM-Vorrunde jedenfalls angenommen. «Wenn wir so weitermachen, haben wir hier nichts mehr zu suchen», sagte er vor dem Rumänien-Spiel. «Aber wir haben immer noch das Gefühl, dass wir aus diesem Turnier ein ganz besonderes machen können. Ich glaube an diese Mannschaft. Wir haben viel Qualität. Die müssen wir aber endlich auch zeigen.»