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Leben und Sterben für Russland: Nawalnys «Patriot» erscheint

Vor gut acht Monaten starb der Kremlgegner Alexej Nawalny im Straflager. Trotz Folter in Haft verfasste er seine Autobiografie «Patriot», die auch eine Anklageschrift gegen Präsident Putin ist.

Nachdem er den Giftanschlag mit dem chemischen Kampfstoff Nowitschok 2020 überlebt hatte, begann der Kremlgegner Alexej Nawalny seine Autobiografie zu schreiben. (Archivbild)
Foto: Pavel Golovkin/AP/dpa

Als eine Art Vermächtnis ihres Mannes Alexej sieht Julia Nawalnaja die Autobiografie «Patriot» des über viele Jahre wichtigsten Oppositionellen in Russland. Das Buch erscheint zwar nicht in Russland, aber auf Russisch und in 19 weiteren Sprachen, darunter auf Deutsch (Verlag S. Fischer). Es sei ein wichtiges Zeugnis vom Mut des schärfsten Gegners von Kremlchef Wladimir Putin und vom Glauben an eine bessere Zukunft Russlands, sagt die 48-Jährige. Sie hat das mehr als 500 Seiten dicke Werk mit vielen Fotos der Familie und der politischen Auftritte selbst nach dem Tod Nawalnys fertiggestellt.

Nawalnaja betont, was auch den Lesern schnell auffällt: Dass Alexej Nawalny auch in den dunkelsten Stunden der Haft – trotz Folter und Krankheit – nie seinen Humor und Optimismus verloren hat. Wer Nawalnys politische Laufbahn verfolgt hat, kennt viele Stationen des Buches. Und er kennt auch die beißend scharfe Kritik des Oppositionsführers – bei öffentlichen Auftritten vor Tausenden Demonstranten, in seinen Sendungen im Internet oder vor Gericht.

Er gewährt jedoch auch in der Gesamtschau seines Lebens sehr persönliche Einblicke. Er gibt Einblicke in das Schicksal eines Mannes, der wie kein anderer unzählige Enthüllungen über ein mafioses System unter Putin gemacht hat, aber auch von seiner Liebe zu seiner Frau Julia und seinen Kindern Dascha und Sachar getragen wurde. Nawalnaja selbst sagt in einem Clip bei Instagram, sie habe immer wieder lachen und weinen müssen, als sie seine begonnene Arbeit an dem Buch beendete.

Bedeutender Kämpfer gegen Korruption

Nawalny berichtet, wie er als Sohn eines Offiziers in der sich auflösenden Sowjetunion sein Jurastudium absolvierte und als Anwalt zum führenden Kämpfer gegen Korruption in dem riesigen Reich wurde. Die Biografie ist nicht nur ein fesselndes Zeugnis dafür, wie ein politisch sehr aufmerksamer Mensch Zeitgeschichte erlebte. Der Leser erfährt auch von Jugendsünden und Nawalnys Versuch, mit einer kontroversen Kooperation mit Rechtsextremen Front gegen den Kreml zu machen.

Das Buch dient auch als Nachschlagewerk, um zu zeigen, wie politische Graswurzelarbeit in einem autoritären System funktioniert oder eben nicht. Der preisgekrönte Nawalny hat ein umfangreiches politisches Netzwerk aufgebaut und mit seiner Anti-Korruptions-Stiftung die Mächtigen bloßgestellt, bis Putins Apparat immer stärker zur Gegenwehr überging. Nawalny berichtet auch über die zahlreichen Angriffe auf ihn, die 2020 in Sibirien mit dem Giftanschlag mit dem Nervengift Nowitschok ihren Höhepunkt erreichten.

Der Gegner des Kremls überlebte damals nur knapp. Er schockiert seine Leser mit Einzelheiten über den Todeskampf im Flugzeug und lässt sie dann aufatmen, als er in der Charité in Berlin – viel langsamer als in einem Hollywood-Film – aus dem Koma erwacht. Er lernt erneut, wie man lebt, und erhält am Tag seiner Entlassung auch Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Der weltweit beachtete Kriminalfall, den der Machtapparat in Moskau nie untersuchen wollte, war letztlich auch der Auslöser für das Buchprojekt.

Rückkehr nach Russland trotz Todesgefahr

Nawalny antwortet detailliert auf die häufig gestellte Frage, warum er trotz drohender Inhaftierung und Todesgefahr von Berlin nach Moskau zurückgekehrt ist. Nur so könne er glaubwürdig in seiner Liebe zu Russland sein. Alles andere wäre Verrat. Seine Biografie beleuchtet vor allem den schwierigen Spagat, politische Überzeugungen, Familienglück und das eigene Leben zu opfern.

«Mir war von Anfang an bewusst, dass ich lebenslang im Gefängnis sitzen werde», heißt es an einer Stelle und an einer anderen: «Ich werde den Rest meines Lebens im Gefängnis verbringen und dort sterben. Es wird niemand da sein, von dem ich mich verabschieden kann.» 

Nawalny starb am 16. Februar allein im Straflager «Polarwolf» in der Arktisregion unter nicht geklärten Umständen. Tagelang weigerten sich die Behörden, seine Leiche herauszugeben, bis seine Mutter Ljudmila Nawalnaja in einem Videoappell an Putin die Erpressungsversuche öffentlich machte. Sie erreichte es letztlich, dass Nawalny am 1. März unter großer Anteilnahme Tausender Menschen in Moskau beerdigt wurde.

Buch als «Denkmal» für den Oppositionsführer

Nawalny selbst zeigt sich in dem Buch im Reinen mit sich. Er habe in seinem kurzen Leben selbst viel bewegen können, mehr als viele andere – und meint, dass das Buch, «falls sie mich endgültig erledigen sollten, mein Denkmal sein wird».

Julia Nawalnaja hat bereits kurz nach dem Tod von Alexei Nawalny erklärt, dass sie seinen politischen Kampf gegen Putin fortsetzen wird. Sie lebt wie die Kinder im Ausland. Bei Treffen mit Staatsführern wie US-Präsident Joe Biden und Kanzler Olaf Scholz lenkt sie immer wieder das Augenmerk auf den notwendigen Kampf gegen Putins Krieg gegen die Ukraine. Zudem setzt sie sich für die Freilassung von politischen Gefangenen ein, wie es im Sommer auch bei einem Austausch mit Deutschland der Fall war.

Nawalnys Anti-Korruptions-Stiftung wurde in Russland als extremistisch verboten. Dennoch arbeiten die bekanntesten Vertreter seines Teams bereits im Ausland weiter, wenn auch mit weniger Einfluss als zuvor. Politische Kommentatoren hatten immer befürchtet, dass der Verlust der Leitfigur Nawalny für die Opposition eine existenzielle Bedrohung darstellen könnte. Monate nach seinem Tod zeigt sich das Lager der Kremlgegner heute tatsächlich noch gespaltener als zuvor.

dpa