Die Volksbühne ist eines der renommiertesten Theater im deutschsprachigen Raum. Nun wird Matthias Lilienthal, der schon unter Castorf arbeitete, Nachfolger des überraschend gestorbenen René Pollesch.
«Drecksarbeit» an der Volksbühne? Lilienthal folgt Pollesch
Matthias Lilienthal übernimmt die Intendanz der Berliner Volksbühne ab 2026/27. Die Choreographin und Künstlerin Florentina Holzinger gehört zum beratenden Team. Holzinger hat in den letzten Jahren mit provokanten und blutigen Performances für Aufsehen gesorgt.
Neben Holzinger (39) wird in Zukunft die Choreographin Marlene Monteiro Freitas (46) dem beratenden Team angehören.
Die Personalien am renommierten Theater, das jahrzehntelang von Frank Castorf geleitet wurde, hatten zuletzt für Aufsehen gesorgt. Nach dem überraschenden Tod des Dramatikers und Theater-Stars René Pollesch, der 2021 bis 2024 die Intendanz innehatte, war eine Übergangslösung für die Intendanz gescheitert. Das deutsch-norwegische Künstlerduo Ida Müller und Vegard Vinge sollte ein Interims-Team bilden, sagte aber ab – spekuliert wurde, dass dies an den Kürzungen im Berliner Kulturetat lag.
Herausforderungen durch Kürzungen im Kulturetat
Joe Chialo, Berlins Kultursenator (CDU), stellt nun eine geeignete Lösung für die traditionsreiche Bühne vor, die für ihre gesellschaftskritischen und provokanten Inszenierungen bekannt ist.
Das Dreierteam steht vor einer anspruchsvollen Herausforderung. Wie viele andere Kultureinrichtungen ist auch die Volksbühne von Sparmaßnahmen in der Hauptstadt betroffen. Das Haus muss in diesem Jahr zwei Millionen Euro einsparen. „Er missbilligt das extrem“, sagte Lilienthal. Er bemüht sich, dagegen zu lobbyieren und mit Chialo Lösungen für das Budget zu finden.
Lilienthal muss neben den Kürzungen auch weiterhin den Balanceakt zwischen künstlerischer Qualität und Besucher-Auslastung bewältigen. Dies war während seiner Amtszeit als Intendant der Münchner Kammerspiele von 2015 bis 2020 keine leichte Aufgabe.
Lilienthal: Bekannt für experimentelles Theater, das polarisiert
Der 65-Jährige ist bekannt für experimentelles und avantgardistisches Theater. Er setzt auf interdisziplinäre und performative Formate, die oft den traditionellen Theaterrahmen sprengen. Das kam bei Teilen des Münchner Publikums und der bayerischen Politik nicht immer gut an – aber bei der Kritik und Fachleuten, die die Kammerspiele unter Lilienthal zweimal in Folge zum «Theater des Jahres» wählten.
Performance-Star Florentina Holzinger formulierte es am Freitag so: Sie sei «urhappy», dass er den Job übernehme, «die Drecksarbeit sozusagen».
«Mir hat die Arbeit in München extrem viel Spaß gemacht», sagte Lilienthal bei der Vorstellung seiner Personalie in Berlin. In dem Moment, in dem es so richtig Spaß gemacht hatte, habe es aber nicht weitergehen dürfen.
Volksbühne sei das «schönste Theater der Welt»
«Ich hab‘ Lust, das noch mal neu zu erfinden.» Die Volksbühne sei, glaube er, das «schönste Theater der Welt.» Ihm mache es Spaß, Häuser zu leiten. «Ich bin ein Berliner und mir liegt das Schicksal der Volksbühne total am Herzen», sagte er.
Lilienthal ist der Volksbühne nicht fremd. Als Castorfs Chefdramaturg und Stellvertreter war er bereits zwischen 1991 und 1998 an dem Haus tätig. Lilienthal, gebürtig aus Berlin-Neukölln, leitete außerdem von 2003 bis 2012 das Berliner HAU Hebbel am Ufer und erzielte dort künstlerische Erfolge.
Holzinger und Monteiro Freitas sollen ein Artistic Board bilden. Lilienthal erklärte, dass sie regelmäßig zusammenkommen und wichtige Entscheidungen des Hauses besprechen wollen.
«Es gibt trotzdem eine Möglichkeit der letzten Entscheidung bei mir», sagte Lilienthal. Holzinger und Freitas sollten möglichst viel an dem Haus künstlerisch arbeiten können. Das Konzept sei noch «extrem work in progress», betonte die Choreographin Holzinger, die für ihre spektakulären Bühnenstücke mit nackten Frauenensembles bekannt ist. Sie hat schon einige Male an dem Haus inszeniert («Ophelia’s Got Talent», «Sancta»).
Auch Holzinger bewarb sich auf Intendanz
Es waren über 30 Bewerbungen für die Leitung eingegangen – auch von Holzinger. Sie äußerte Bedenken, dass sich zu wenig Frauen bewerben würden und gab an, eng mit dem Haus zusammengewachsen zu sein. Letztendlich zog sie jedoch ihre Bewerbung zurück – eine Intendanz könne sie sich derzeit nicht vorstellen.
Chialo ließ sich für die Neubesetzung von einem Expertengremium beraten. Lilienthals Vertrag läuft bis Sommer 2031.
Tanz soll ein Drittel des Programms ausmachen
Lilienthal gab in Berlin einen ersten Einblick, was ihm für das Haus im früheren Ost-Berlin inhaltlich vorschwebt. So plant er, Identitätsfragen bezüglich des Lebens in der DDR neu zu formulieren.
Zusätzlich soll auch Tanz an der Volksbühne hinzugefügt werden. Dies solle möglicherweise etwa ein Drittel des Programms ausmachen, sagte er. Es sollen jedoch auch weiterhin große Schauspiel- und Sprechtheaterarbeiten präsentiert werden.
Er gehe davon aus, dass es zu rund 95 Prozent ein internationales Line-up der Regisseure geben werde. Das sei ein «bewusster Widerstand gegen die Renationalisierung, die politisch in diesem Land und im deutschsprachigen Raum und in Europa passiert».