50 Jahre ist es her, dass einer von Europas großen Regisseuren der Nachkriegszeit ermordet wurde. Der Fall ist bis heute nicht geklärt. Und wird es vermutlich auch nie.
Mord an Pasolini beschäftigt Italien noch immer

Am Abend von Allerheiligen macht sich der italienische Filmemacher Pier Paolo Pasolini, einer der großen Namen des europäischen Kinos, auf die Suche nach Sex. In der Nähe von Roms Hauptbahnhof gabelt er einen jungen Stricher namens Giuseppe Pelosi auf. Am Ufer des Tiber gehen die beiden essen, in die Trattoria «Al Biondo Tevere». Dann fahren sie in Pasolinis Alfa Romeo 30 Kilometer weiter nach Ostia ans Meer. Am Morgen danach findet eine Spaziergängerin dort am Strand eine schlimm verunstaltete Leiche.
Am Sonntag (2.11.) jährt sich der Mord an Pasolini zum 50. Mal. In Italien ist dies erneut ein großes Thema. Der Mord an PPP – fast jeder versteht auch heute noch, wer mit dieser Abkürzung gemeint ist – zählt zu den spektakulärsten Verbrechen in der Geschichte des Landes: vergleichbar mit der Ermordung des ehemaligen Regierungschefs Aldo Moro 1978 durch die Roten Brigaden oder den tödlichen Mafia-Attentaten auf die Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino 1992.
Kaum jemand glaubt noch an einen Einzeltäter
Im Fall Pasolini weiß immer noch niemand, wer tatsächlich dahintersteckte. Es wird kaum noch geglaubt, dass der vielfach preisgekrönte Regisseur («Große Vögel, kleine Vögel», «Die 120 Tage von Sodom») im Affekt von einem 17-jährigen Strichjungen getötet wurde. Das Urteil gegen den vermeintlichen Einzeltäter – neuneinhalb Jahre Haft wegen Totschlags – wird als Fehlurteil angesehen. Es gibt zu viele Widersprüche, zu viele neue Indizien.
Pelosi wurde um 1.30 Uhr von der Polizei gestellt, noch bevor die Leiche gefunden wurde: Er fuhr ohne Führerschein in Pasolinis Alfa Romeo entgegen der Fahrtrichtung auf einer Küstenstraße. Später wurde ein Ring von ihm am Tatort gefunden. Der Stricher behauptete, der Regisseur habe ihn zu bestimmten Sexpraktiken zwingen wollen. Im Streit habe er den viel älteren – Pasolini war 53 – und durchtrainierten Mann mit einem Straßenschild erschlagen. Auf der Flucht sei er dann mit dem Auto über dessen Körper gefahren.
Im ersten Prozess kam ein Gericht noch zum Urteil, dass Pelosi – wegen seines breiten Mundes «la rana», der Frosch, genannt – Mittäter gehabt haben müsse. Die nächsten Instanzen stellten jedoch seine Alleinschuld fest. Trotzdem gab es damals schon Spekulationen, dass Pasolini Opfer eines Komplotts gewesen sein könnte. Italiens bekannteste Journalistin Oriana Fallaci schrieb schon kurz nach seinem Tod, er sei von einem faschistischen Schlägertrupp erschlagen worden.
Italien in den 70er Jahren mit viel politischer Gewalt
Tatsächlich gab es in den 1970ern in Italien eine Welle tödlicher politischer Gewalt von links und rechts. Pasolini – seit seiner Jugend bekennender Kommunist, obwohl ihn die Partei wegen seiner Homosexualität ausgeschlossen hatte – äußerte sich immer wieder zu politischen Fragen. Er galt als unbequemer Intellektueller. Außerdem recherchierte er in den Wochen vor seinem Tod an einem Roman («Petrolio») über Italiens Erdölindustrie.
Der Mann, der ihn getötet haben soll, schwieg nach seiner Freilassung viele Jahre lang zu den Vermutungen. Im Jahr 2005 präsentierte Pelosi jedoch in einem TV-Interview eine völlig neue Version der Ereignisse, die nichts mehr mit einem Streit um Sex zu tun hatte. Laut Pelosi wurde Pasolini von drei sizilianisch sprechenden Männern mit Stöcken und Eisenketten zu Tode geprügelt. Die Stille des Mannes wurde mit Morddrohungen gegen seine Eltern und sich selbst erklärt. Alles dabei: Täter, Opfer, Zeuge, Sündenbock.
Hinweise auf rechte Szene
Man muss diese Version nicht glauben. Aber tatsächlich wurden im Laufe neuer Ermittlungen an Beweismaterial DNA-Spuren von mindestens fünf Männern gefunden. Von Pelosi hingegen gab es in dem Alfa Romeo keinerlei Blutspuren, obwohl er behauptet hatte, nach dem Streit «von Blut getropft» zu haben. Außerdem berichtete ein V-Mann der Polizei, dass zwei sizilianische Brüder in Roms rechter Szene mit ihrer Beteiligung an dem Mord geprahlt hätten. Trotzdem wurden die Ermittlungen 2015 wieder eingestellt.
Es gibt mittlerweile kaum noch eine Möglichkeit, den Fall aufzuklären. Pelosi verstarb 2017 im Alter von 59 Jahren an den Folgen von Krebs. Auch das sizilianische Brüderpaar ist bereits seit vielen Jahren tot. Im März 2023 wurde ein Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens von der italienischen Justiz abgelehnt.
Fall Pasolini für Italien «wie ein unruhiges Gespenst»
Umso mehr werden in den Zeitungen diese Tage wieder alle Verästelungen des Falls aufgedröselt. Es gibt auch neue TV-Dokumentationen und Bücher. Die Zeitung «La Repubblica» schreibt: «Das tragische Ende von PPP verfolgt unser kollektives Gedächtnis wie ein unruhiges Gespenst, dem Wahrheit und Gerechtigkeit verweigert wird.»
Wahrscheinlich wissen mittlerweile mehr Menschen, dass Pasolini einem Mord zum Opfer fiel, als dass sie einen seiner immerhin zwei Dutzend Filme gesehen hätten oder auch nur einen der Titel nennen könnten. An der Stelle des Verbrechens erinnert ein kleines Denkmal an einen der großen Intellektuellen Italiens des 20. Jahrhunderts: ein Vogel, der gen Himmel fliegt. Wenn nicht gerade ein Jahrestag ist, besuchen nicht mehr viele Leute diesen Ort.








