Am 7. Oktober kamen Tausende Terroristen aus Gaza nach Israel und richteten dort ein beispielloses Blutbad an. Die israelische Antwort ist schlimmer als alles, was die Palästinenser bisher erlebt haben.
100 Tage Hölle: Wie geht es nach dem Gaza-Krieg weiter?
Israel hat innerhalb von 100 Tagen große Teile des Gazastreifens zerstört, nachdem das schlimmste Massaker in seiner Geschichte stattgefunden hat. Laut dem Hamas-Gesundheitsministerium wurden bisher über 23.000 Menschen getötet, wobei etwa 70 Prozent davon Frauen und Minderjährige sind. Laut den Vereinten Nationen wurden rund 360.000 Wohnungen in dem palästinensischen Gebiet während Israels Krieg gegen die islamistische Terrororganisation Hamas zerstört oder beschädigt. Dies bedeutet, dass mehr als eine halbe Million der 2,2 Millionen Einwohner des Küstengebiets nach dem Krieg keine Unterkunft mehr haben.
Bei dem Versuch, das Ausmaß der Zerstörung zu beschreiben, wird immer wieder der Vergleich zwischen Gaza und Dresden 1945 herangezogen. Die Kosten für den Wiederaufbau werden auf über 46 Milliarden Euro geschätzt. Auch die humanitäre Situation in dem schmalen Küstenstreifen ist katastrophal – jedoch ist ein Ende der Kämpfe vorerst nicht in Sicht.
Inwieweit hat Israel bisher seine Kriegsziele erreicht?
Nach Ansicht der israelischen Forscherin Idit Shafran Gittleman, die sich mit Kriegsethik befasst, hat die Regierung in Jerusalem der Öffentlichkeit zu große Versprechungen gemacht. Es seien die Zerstörung der Hamas und die Rückführung der Geiseln versprochen worden. «Je mehr Zeit vergeht, desto mehr versteht die Öffentlichkeit, dass diese Fantasie offenbar nicht umzusetzen ist», sagt die Expertin.
Auch mehr als drei Monate nach dem Massaker am 7. Oktober, bei dem Terroristen der islamistischen Hamas und anderer Palästinenserorganisationen mehr als 1200 Menschen auf oft bestialische Weise getötet und 250 weitere in den Gazastreifen verschleppt hatten, werden im Küstenstreifen noch 136 Menschen weiterhin festgehalten. Von den 105 Geiseln, die während einer einwöchigen Feuerpause im November im Gegenzug für 240 palästinensische Häftlinge freigekommen waren, berichten viele von schrecklichen Bedingungen während ihrer Gefangenschaft. Die Angehörigen werden derweil immer verzweifelter und ihre Proteste immer lauter.
Der Militärexperte Ofer Schelach vom Institut für Nationale Sicherheit (INSS) in Tel Aviv spricht von Teilerfolgen Israels. Er sieht die Hamas als regierende Kraft im Gazastreifen bereits als gestürzt an. «Die Hamas kontrolliert den Gazastreifen nicht mehr», sagt Schelach. Die militärische Bedrohung Israels durch die Hamas sei allerdings nicht vollständig gebannt. Schelach warnt davor, dass Israel im Gazastreifen «versinken» könnte wie im Süden Libanons in den Jahren nach dem Krieg 1982.
Aufgrund der massiven Angriffe im Gazastreifen hat Südafrika Israel beschuldigt, systematisch völkermörderische Handlungen begangen zu haben, vor dem Internationalen Gerichtshof. Es verlangt sofortigen Rechtsschutz für die Palästinenser. Wenn die Richter beispielsweise das Ende der militärischen Handlungen anordnen würden, würde Israel stark unter Druck geraten.
Hamas-Führungstrio noch nicht gefasst
Aus Israels Sicht wäre es nämlich ein demütigender Sieg der Hamas, wenn das Land vor dem Erreichen seiner Hauptziele wieder abziehen müsste. Der INSS-Leiter und Ex-Chef des Militärgeheimdienstes, Tamir Hayman, sagt etwa mit Blick auf die Hamas-Anführer Jihia al-Sinwar, Mohammed Deif und Marwan Issa: «Wir haben es bisher nicht geschafft, das Führungstrio auszuschalten.» Das Ausmaß des unterirdischen Tunnelsystems der Hamas, in dem die Führungsspitze sich versteckt hält, ist noch viel größer, als Israel es erwartet hatte.
Hayman drückt seine Besorgnis aus, dass die Hamas im Falle von Chaos nach dem Krieg oder der Installation einer schwachen Alternative erneut die Kontrolle übernehmen könnte.
Frage nach dem Tag danach
Genau deshalb drängen die USA schon seit langem auf eine Debatte über den «Tag danach» im Gazastreifen. Israel hat aber bisher keinen Fahrplan vorgelegt, der nicht mit den Vorstellungen der wichtigsten Verbündeten kollidiert. Die US-Regierung will, dass eine reformierte Palästinensische Autonomiebehörde, deren Sitz in Ramallah liegt, nach dem Krieg auch die Kontrolle im Gazastreifen übernimmt.
Dies lehnt der rechtskonservative israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu jedoch strikt ab. Es werde weder ein «Hamastan» noch ein «Fatahstan» im Gazastreifen geben, sagte er mit Blick auf die Hamas und die Fatah-Organisation des gemäßigteren palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas, der an der Spitze der Autonomiebehörde steht. Netanjahu wirft der Fatah vor, ebenfalls zu Terror gegen Israel aufzuwiegeln. Eine klare Mehrheit der Palästinenser ist für den bewaffneten Kampf gegen die israelische Besatzung.
Netanjahu betont, dass Israel auch nach dem Ende des Krieges die Sicherheitskontrolle im Gazastreifen behalten wird. Er strebt außerdem an, dass Israel dauerhaft an der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Ägypten präsent ist, um zukünftige Waffenlieferungen in den Küstenstreifen über die Sinai-Halbinsel zu verhindern. Des Weiteren plant Israel die Einrichtung einer Sicherheitszone entlang seiner Grenze zum Gazastreifen mit einer Breite von etwa einem Kilometer.
Politischer Druck zur Wiederbesiedlung des Gazastreifens
Die Mehrheit der Israelis ist mittlerweile gegen eine Zweistaatenlösung. Viele fürchten, dass es sonst auch in Zukunft Raketenangriffe auf israelische Gebiete aus dem Westjordanland geben könnte. Zudem argumentieren einige, dass die Schaffung eines unabhängigen Staates gerade nach dem beispiellosen Massaker am 7. Oktober einer Belohnung gleichkomme.
Rechtsextreme Mitglieder von Netanjahus Regierung streben sogar eine israelische Wiederbesiedlung des Gazastreifens nach dem Krieg an. Israel hatte sich 2005 aus dem Gebiet zurückgezogen und mehr als 20 israelische Siedlungen dort geräumt. Der israelische Finanzminister Bezalel Smotrich spricht nun von einer «freiwilligen Auswanderung» der palästinensischen Bevölkerung. Die USA lehnen eine Zwangsvertreibung aus dem Gazastreifen entschieden ab.
In Anbetracht der katastrophalen Situation im Gazastreifen geraten die Vereinigten Staaten und andere Verbündete Israels zunehmend in die Kritik. US-Präsident Joe Biden, der zu Beginn des Krieges eindeutig auf der Seite Israels stand, verliert auch unter den jüngeren Anhängern seiner Partei Unterstützung – und das in einem entscheidenden Wahljahr 2024.
Annäherung an Saudi-Arabien als Anreiz
Die USA versuchen nun offenbar, eine regionale Lösung zu finden. US-Außenminister Antony Blinken sagte bei seinem Besuch in der Region, es gebe weiterhin ein klares Interesse Saudi-Arabiens an einer Annäherung an Israel. Eine Bedingung für eine solche Vereinbarung, die aus Sicht Netanjahus ein Riesenerfolg wäre, sei jedoch ein «praktischer Weg zu einem palästinensischen Staat». Der konzertierte Überraschungsangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober galt auch als Versuch, der Annäherung den Todesstoß zu versetzen. Denn ein solches Bündnis wäre aus Sicht der Hamas, der libanesischen Hisbollah sowie ihrer Schutzmacht Teheran zu ihrem großen Nachteil.
Weiterhin Sorge vor größerem regionalen Krieg
Seit Beginn des Kriegs mit der Hamas wird Israel auch massiv von anderen Kräften angegriffen, die zur sogenannten «Achse des Widerstands» gehören, die der Iran als Erzfeind des jüdischen Staates aufgebaut hat. Die libanesische Schiitenmiliz Hisbollah liefert sich immer heftigere Gefechte mit der israelischen Armee in der Grenzregion. Auch die Huthi-Rebellen im Jemen greifen Israel mit Raketen sowie Drohnen an und stören den internationalen Schifffahrtshandel mit regelmäßigen Angriffen. In der Nacht zum Freitag regierten die USA und Großbritannien darauf, indem sie mit Unterstützung der Niederlande, Kanadas und Bahrains Stellungen der Huthi im Jemen attackierten. Eine auch von Deutschland mitgetragene Erklärung begründet den Militärschlag auch mit dem Recht auf Selbstverteidigung. Ein Vertreter der Huthi drohte Vergeltung an.
Die Sorge vor einer schrittweisen Eskalation in einen regionalen Krieg ist groß. Bei seiner Amtsübernahme sagte der neue israelische Außenminister Israel Katz kürzlich, sein Land sei schon «mitten in einem Dritten Weltkrieg» gegen den Iran und den radikalen Islam.