Baerbock stellt klare Erwartungen an neue Machthaber und fordert Rechte für alle Syrer im politischen Prozess.
De-facto-Herrscher in Syrien: Baerbocks Bedingungen für Neuanfang
Außenministerin Annalena Baerbock stellt den neuen De-facto-Herrschern in Syrien Bedingungen für eine Neuaufnahme der Beziehungen zu Deutschland und der Europäischen Union. «Ein politischer Neuanfang zwischen Europa und Syrien, zwischen Deutschland und Syrien ist möglich», erklärte die Grünen-Politikerin zu einem unangekündigten Besuch in Damaskus. Sie komme mit ihrem französischen Amtskollegen Jean-Noël Barrot und im Namen der EU «mit dieser ausgestreckten Hand, aber auch mit klaren Erwartungen an die neuen Machthaber» in die syrische Hauptstadt.
Etwa vier Wochen nach dem Sturz von Langzeitmachthaber Baschar al-Assad planen Baerbock und Barrot im Auftrag der EU-Außenbeauftragten Kaja Kallas Gespräche mit Vertretern der von Rebellen gebildeten Übergangsregierung. Der De-facto-Herrscher Ahmed al-Scharaa ist der Anführer der islamistischen Rebellengruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS) und war zuvor unter seinem Kampfnamen Abu Mohammed al-Dscholani bekannt.
Die Außenministerin plante, am Morgen von Zypern aus nach Damaskus zu fliegen. Barrot hatte mit Verteidigungsminister Sébastien Lecornu im nahe gelegenen Libanon mit den dort stationierten französischen Soldaten der UN-Beobachtermission Unifil den Jahreswechsel gefeiert. Baerbock und Barrot sind die ersten EU-Außenminister, die Syrien seit Assads Sturz besuchen.
Baerbock fordert Schutz von Frauen und Minderheiten
«Den Neuanfang kann es nur geben, wenn die neue syrische Gesellschaft allen Syrerinnen und Syrern, Frauen wie Männern, gleich welcher ethnischen oder religiösen Gruppe, einen Platz im politischen Prozess einräumt, Rechte gewährt und Schutz bietet», verlangte Baerbock. Diese Rechte müssten gewahrt werden und dürften «nicht möglicherweise durch zu lange Fristen bis zu Wahlen oder auch Schritte zur Islamisierung des Justiz- oder Bildungssystems unterlaufen werden».
Al-Scharaa hatte vor Kurzem erwähnt, dass es etwa drei Jahre dauern könnte, bis ein neuer Verfassungsentwurf vorgelegt wird, und ein weiteres Jahr bis zu den Wahlen. Das arabische Land ist seit über zehn Jahren durch Bürgerkrieg zersplittert und konfessionell geteilt. Selbst nach dem Sturz Assads kämpfen rivalisierende Milizen um die Kontrolle.
Baerbock betonte, dass Syrien bei einem friedlichen Machtwechsel, der Versöhnung der Gesellschaft und beim Wiederaufbau unterstützt werden solle – zusätzlich zur humanitären Hilfe, die den Menschen in Syrien auch in den vergangenen Jahren zuteil geworden sei.
Baerbock forderte, dass es nur einen Neuanfang geben könne, wenn die Vergangenheit aufgearbeitet und Gerechtigkeit hergestellt werde sowie Racheakte an Bevölkerungsgruppen ausblieben. Sie betonte, dass Extremismus und radikale Gruppen keinen Platz haben dürften.
Skepsis wegen Vergangenheit der Rebellen
«Wir wissen, wo die HTS ideologisch herkommt, was sie in der Vergangenheit getan hat», sagte Baerbock. Man sehe aber auch den Wunsch nach Mäßigung und Verständigung mit anderen wichtigen Akteuren. So sei die Aufnahme von Gesprächen mit den kurdisch dominierten Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) ein wichtiges Zeichen in diese Richtung.
Die HTS entstand aus der Al-Nusra-Front, einem Ableger des Terrornetzwerks Al-Kaida. Al-Scharaa hatte sich von Al-Kaida und der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) distanziert. Es gibt jedoch Berichte, die besagen, dass die HTS-Führung weiterhin Kontakt zu Al-Kaida hat.
Baerbock: Werden HTS an ihren Taten messen
Angesichts dessen sagte Baerbock: «Wir werden die HTS weiter an ihren Taten messen. Bei aller Skepsis dürfen wir jetzt nicht die Chance verstreichen lassen, die Menschen in Syrien an diesem wichtigen Scheideweg zu unterstützen.»
Die Bundesaußenministerin erklärte, dass Deutschland sich dafür einsetzt, dass der innersyrische Prozess nicht von außen gestört wird. Sie betonte die Notwendigkeit, die Souveränität und territoriale Integrität durch alle Nachbarstaaten zu respektieren und verwies dabei offensichtlich auf die Türkei und Israel, die kritisiert werden, ihre eigenen Interessen in Syrien zu verfolgen. Es sei außerdem an der Zeit, dass Russland seine Militärbasen in Syrien verlasse. Moskau war lange Zeit einer der wichtigsten Verbündeten Assads.
Mehr als 16 Millionen Syrer auf humanitäre Hilfe angewiesen
Syrien ist nach fast 14 Jahren Bürgerkrieg in großen Teilen zerstört und durch Landminen und andere Kampfmittel verseucht. Es mangelt dem Land an Arbeits- und Fachkräften, die Wirtschaft schrumpft und die Währung hat seit 2020 mehr als 90 Prozent ihres Werts verloren. Die Versorgung mit öffentlichen Diensten ist zusammengebrochen. Über 16 Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen.
Knapp eine Million syrische Flüchtlinge in Deutschland
Bei den Gesprächen von Baerbock in Damaskus dürfte auch die von der Übergangsregierung befürwortete Rückkehr syrischer Flüchtlinge aus Deutschland thematisiert werden. Laut Bundesinnenministerium leben derzeit rund 975.000 Syrer in Deutschland. Die meisten kamen seit 2015 aufgrund des Bürgerkriegs ins Land.