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Baerbock verspricht Jesiden nach Völkermord Aufbauhilfe

Außenministerin Annalena Baerbock besucht zentrale Schauplätze von Gräueltaten der Terrormiliz IS im Irak. Sie will auch ein Zeichen der Hoffnung senden.

Baerbock besucht bei ihrer Reise die nordirakische Stadt Sindschar, dem Hauptsiedlungsgebiet der Jesiden. Der Islamische Staat (IS) gilt als verantwortlich für den Völkermord an den Jesiden nach 2014.
Foto: Michael Kappeler/dpa

Najah Sedo kann ihre Tränen nicht bremsen. Fest umarmt die 32 Jahre alte Jesidin in der Schule des irakischen Dorfes Kutschu die deutsche Außenministerin. Annalena Baerbock steht mit ihr vor Schautafeln, auf denen der Horror sichtbar wird, den die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) 2014 in der Region Sindschar im Nordwesten des Iraks verbreitete. Dort hängt auch ein Foto von Sedos Mann Talaat, Jahrgang 1980 – zusammen mit Bildern Hunderter weiterer Opfer. Ermordet von den IS-Dschihadisten.

Baerbock besucht an diesem Donnerstag in der Region nahe der syrischen Grenze zentrale Schauplätze von IS-Gräueltaten. In einer aus Sicherheitsgründen zunächst geheim gehaltenen Aktion ist sie in einem besonders geschützten Konvoi unterwegs. Rechts von der Straße ist der Grenzzaun zu Syrien zum Greifen nah. Mehr als 5000 Angehörige der jesidischen Religionsgemeinschaft hatte der IS 2014 ermordet, als er die Region überrannte. Zehntausende wurden getötet, verschleppt und versklavt.

Kudschu: Massaker nach zwölf Tagen Belagerung

Am 15. August 2014 hatten IS-Kämpfer in Kudschu nach einer zwölf Tage langen Belagerung der Schule Männer, Jungen und älteren Frauen zusammengetrieben und ermordet. Jüngere Frauen und Mädchen wurden entführt und als Sklavinnen verkauft. Ein Großteil der Familien lebt immer noch in Flüchtlingslagern in der kurdischen Autonomieregion. Kudschu ist Heimatort der jesidischen Menschenrechtsaktivistin Nadia Murad, die den Friedensnobelpreis bekam.

Najah Sedo erzählt, sie selbst sei sechs Monate lang von den Dschihadisten gefangen gehalten und dann verkauft worden. Heute lebt sie mit ihren beiden Kindern in einem Aufnahmeprogramm der baden-württembergischen Regierung in Stuttgart. Eine Psychotherapie soll ihr helfen. Doch die Erinnerungen lassen sie nicht los: Jede Nacht träume sie von Kudschu und den Verbrechen.

Baerbock: «Das Böse hat sein Gesicht gezeigt»

Baerbock verspricht den Jesiden im Irak erschüttert Unterstützung beim Wiederaufbau und der Verfolgung der Täter. «Kudschu ist einer dieser Orte, wo das Böse auf dieser Welt sein Gesicht gezeigt hat», sagt sie. «Wir können diese Väter und Mütter, diese Kinder nie wieder zurückholen. Aber wir können dafür sorgen, dass die Täter dieser brutalen Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden.»

Nachdem die internationale Gemeinschaft den Völkermord nicht habe verhindern können, habe sie eine Verantwortung, dafür zu sorgen, dass dieser nicht über Generationen vererbt werde. Den Vertriebenen müsse wieder ein normaler Alltag ermöglicht werden. Kinder müssten zur Schule gehen können.

Baerbock legt in Kudschu weiße Rosen an einem neu errichteten Friedhof nieder. In der Region Sindschar hatte der IS 2014 mehr als 5000 Angehörige der jesidischen Religionsgemeinschaft ermordet. Zehntausende wurden getötet, verschleppt und versklavt. Die IS-Dschihadisten gelten zwar seit 2017 als militärisch besiegt, IS-Zellen verüben aber weiterhin Anschläge. Die Vereinten Nationen (UN) und der Bundestag haben die Verbrechen des IS als Völkermord verurteilt.

Baerbock will mit der Reise auch ein Zeichen zur Rückkehr von – nach Angaben der Bundesregierung – immer noch etwa 210 000 jesidischen Binnenvertriebenen im Irak in deren Heimatregion geben. In Deutschland lebt nach Angaben der Bundesregierung mit bis zu 200 000 Personen die größte jesidische Diaspora weltweit. Vor vier Jahren war Baerbock schon einmal in der autonomen Kurdenregion im Irak, noch als Grünen-Chefin. An eine Fahrt nach Sindschar war damals nicht zu denken – zu gefährlich.

Im Haus der Koexistenz

Vier Tage lang besucht Baerbock den Irak – der Besuch in Sindschar ist ein zentrales Element. Im «Haus der Koexistenz» im Dorf Snuny informiert sie sich über das schwierige Nebeneinander der Ethnien und Religionen. Die wenigen Schulen in der Region seien überfüllt, es gebe keine Kindergärten und keine Universitäten, berichten Mitarbeiterinnen. Unterstützung aus Deutschland wäre hilfreich.

Bedrückende Zahlen über die Opfer der IS-Terroristen werden genannt. 90 Massengräber seien bisher gefunden worden, 29 habe man schon exhumiert. Mehr als 2700 Kinder seien zu Waisen geworden. 120.000 Jesiden aus der Region seien ins Ausland geflüchtet, mehr als 6400 entführt worden – noch immer würden fast 2700 vermisst.

In Sindschar lässt sich Baerbock die schwer zerstörte Innenstadt des Regionalzentrums zeigen. Helfer erklären ihr die Arbeit. Junge Frauen, die nach dem Abzug des IS in ihre Heimatstadt zurückgekommen sind, berichten von der Aufklärungsarbeit in Schulen. Gerade Kinder seien von Minen und Munitionsresten besonders bedroht. Drei ältere Einheimische bedanken sich: «Deutschland ist gekommen, viele andere Länder sind nicht gekommen.»

dpa