Die Wahlentscheidung steht bevor, Scholz setzt auf Spätentscheider. Merz bereitet sich schon auf die Regierungsbildung vor.
Scholz kämpft um den letzten Strohhalm, Merz bereits als Sieger gefeiert

Auch wenn die Lage aussichtslos erscheint, Bundeskanzler Olaf Scholz findet trotzdem noch einen Weg, sich und seiner SPD Mut zu machen. «Diesmal wie noch bei keiner Wahl werden viele erst in der Wahlkabine ihre Entscheidung treffen», zeigt er sich sicher. «Und da glaube ich, dass viele sagen: Das soll wieder Olaf Scholz sein.»
Scholz setzt jetzt auf Zweckoptimismus und Durchhalteparolen, um bis zur Wahlentscheidung am Sonntag durchzuhalten. Die Geschichte seiner legendären Aufholjagd von 2021 wird nicht mehr erwähnt. Damals startete er mit einem Rückstand von etwa 15 Prozentpunkten in den Wahlkampf, überholte die Union Wochen vor dem Wahltag und brachte schließlich einen knappen Vorsprung ins Ziel. Diesmal war der Winterwahlkampf zwar turbulent, aber der Rückstand blieb eingefroren. Seit der Neuwahl-Entscheidung im November hat sich fast nichts getan.
Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz (CDU) tritt daher auch schon jetzt wie der sichere Wahlsieger auf. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz wurde er vergangenes Wochenende schon von einer Moderatorin als «Kanzler» begrüßt. In Fernsehdebatten lässt er die Scholz-Attacken staatsmännisch an sich abperlen. Und er bereitet sich akribisch auf die Regierungsbildung am Tag nach der Wahl vor. «Wir haben für mehrere Szenarien hier im Adenauer Haus bereits Vorbereitungsarbeiten getroffen, die sind auch schriftlich fixiert», sagte er kürzlich «Politico».
Am liebsten zu zweit: Schwarz-Rot als wahrscheinlichste Option
Die Schwierigkeit der Regierungsbildung hängt entscheidend davon ab, wie viele Parteien in den Bundestag gewählt werden. Vier Fraktionen werden sicher wieder im neuen Parlament vertreten sein: CDU/CSU (27 bis 31 Prozent in den aktuellen Umfragen), AfD (20 bis 21), SPD (15 bis 17) und die Grünen (12 bis 14). Linke, FDP und BSW kämpfen mit der Fünf-Prozent-Hürde. Wenn keine oder nur eine dieser drei Parteien in den Bundestag kommt, besteht die Möglichkeit einer Zweierkoalition. Bei zwei Parteien könnte es knapp werden.
Eine Koalition mit der AfD haben alle anderen Parteien ausgeschlossen – auch die Union. «Das ist klar und endgültig», wiederholte Merz am Mittwoch im Fernsehduell von «Bild» und «Welt».
Es gibt also vorerst zwei Möglichkeiten: In den meisten aktuellen Umfragen hat die Union mit der SPD eine Mehrheit, bei der Hälfte aller Institute reicht es auch noch mit den Grünen. Die CSU wird jedoch auf keinen Fall mit letzteren regieren wollen, daher gelten Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD vorerst als wahrscheinlichste Option.
Kein Selbstläufer: SPD muss sich neu sortieren
Eine Selbstverständlichkeit wäre es jedoch sicher nicht. Die SPD steht vor dem schlechtesten Ergebnis bei einer Bundestagswahl (bisher 20,5 Prozent im Jahr 2017). Olaf Scholz dürfte bei einer solch historischen Niederlage keine Rolle mehr spielen, wenn es um die Regierungsbildung oder die Zukunft seiner Partei geht.
Auch die Parteiführung wäre stark beeinträchtigt. Wird ein geschwächter Parteichef Lars Klingbeil die SPD dennoch in die Koalitionsverhandlungen führen? Oder wird dann die Zeit von Verteidigungsminister Boris Pistorius kommen, dem immer noch beliebtesten Politiker Deutschlands?
Schwarz-Grün in der Hinterhand?
Die SPD wird auf jeden Fall versuchen, den Preis für eine Koalition in die Höhe zu treiben. Schlussendlich müsste das Ergebnis entweder von einem Parteitag oder sogar von einer Abstimmung der Mitglieder gebilligt werden. Dies wird die Parteiführung in den Verhandlungen als Druckmittel einsetzen.
Sollte die Union zu radikal werden, könnte sie vielleicht doch noch die Möglichkeit Schwarz-Grün in Betracht ziehen. Es ist wahrscheinlich, dass Merz auch mit den Grünen sprechen würde, wenn eine Zwei-Parteien-Konstellation mit ihnen mathematisch möglich ist – unabhängig davon, ob CSU-Chef Markus Söder strikt gegen Schwarz-Grün ist. Schon allein, um sich nicht von Anfang an den Forderungen der SPD auszuliefern.
Dreier-Koalition: Ampel als abschreckendes Beispiel
Das Experiment einer Dreier-Koalition auf Bundesebene ist mit der Ampel im ersten Versuch grandios gescheitert. Daher wird ein solches Modell nur noch als letzter Ausweg angesehen, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Da die FDP eine Koalition mit den Grünen durch einen Parteitagsbeschluss ausgeschlossen hat, bleiben nur zwei Optionen: Eine sogenannte Deutschland-Koalition aus Union, SPD und FDP, falls die Liberalen in den Bundestag einziehen. Oder Schwarz-Rot-Grün, von einigen auch Kenia-Koalition genannt, nach den Landesfarben. In beiden Fällen gilt: Je mehr am Tisch sitzen, desto komplizierter wird es.
Ob die FDP überhaupt in den Bundestag gelangt, ist noch unklar. Ihr könnte das gleiche Schicksal widerfahren wie nach ihrer letzten Regierungsbeteiligung von 2009 bis 2013 unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU): das Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde. Es wäre erst das zweite Mal seit 1949, dass die Liberalen aus dem Bundestag ausscheiden.
Koalition mit Linke und BSW kein Thema
Für eine Überraschung könnte die Linke sorgen. Die hatte nach den Erfolgen des neu gegründeten BSW ihrer früheren Fraktionschefin Sahra Wagenknecht auf Landesebene eigentlich niemand mehr so richtig auf dem Schirm. Die Diskussion um die «Brandmauer» zur AfD und eine clevere Kampagne in den sozialen Medien hat ihr aber ein Comeback in den Umfragen verschafft. Das Momentum des BSW verblasst dagegen wieder.
Eine Beteiligung von BSW oder der Linken an einer von der SPD oder den Grünen geführten Regierung gilt aber als extrem unwahrscheinlich. Die Umfragen geben das nicht her, und Kanzler Scholz betont: «Das ist kein Plan, den irgendjemand von uns hat, und deshalb braucht man sich da auch keine Sorgen machen.»
AfD: Gewinnerin im Wartestand
Am Sonntagabend wird sicherlich die Partei zu den Gewinnern zählen, die keiner haben will. Laut allen Umfragen wird die AfD, die vom Verfassungsschutz teilweise als rechtsextrem eingestuft wird, voraussichtlich ihr Ergebnis von 10,3 Prozent bei den Wahlen 2021 verdoppeln.
Die AfD hat bereits während des Wahlkampfs Erfolge erzielt. Mit ihrer Unterstützung hat die Union im Bundestag eine Mehrheit erhalten, um einen Beschluss zur Migrationspolitik zu erreichen. Und Parteichefin Alice Weidel ist erstmals in Fernsehrunden auf Augenhöhe mit den Kanzlerkandidaten Scholz, Merz und Robert Habeck von den Grünen aufgetreten.
Die AfD ist in gewissem Maße gesellschaftsfähig geworden – und strebt danach, bei der nächsten Wahl die stärkste Kraft zu werden. Für die Parteien der Mitte wird es entscheidend sein, in den nächsten vier Jahren genau das zu verhindern. Als wichtigste Voraussetzung wird von vielen genannt: Eine Koalition ohne ständige Streitereien und Grabenkämpfe – anders als es die Ampel gezeigt hat.
Zeitdruck: Die Welt ordnet sich neu – ohne Deutschland
Die Zeit drängt auf jeden Fall wie nie zuvor bei der Bildung einer Regierung. Deutschland hat nun seit fast vier Monaten eine nur noch bedingt handlungsfähige rot-grüne Minderheitsregierung. Im Falle einer Wahlniederlage wird Scholz zwar weiterhin Kanzler bleiben, bis ein neues Kabinett vereidigt wird. Nach der Konstituierung des neuen Bundestags wird er jedoch nur noch ein Geschäftsführer Deutschlands ohne Macht sein. Und das in einer Zeit, in der sich die Welt auf dramatische Weise neu ordnet.
Während Deutschland sich ordnet, plant US-Präsident Donald Trump mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin die Ukraine aufzuteilen. Die EU ist machtlos und uneinig.
Merz zeigt sich schon jetzt ungeduldig. Er will, dass die Regierung bis Ostern steht – nach etwa zwei Monaten. «Wenn wir uns wochenlang, möglicherweise monatelang, möglicherweise mit Parteitagen, sogar Mitgliederbefragungen einzelner potenzieller Partner noch lange aufhalten, dann wird mir der Zeitraum, in dem dieses Land ohne regierungsfähige Mehrheit ist, zu lang», sagt er.