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Olaf Scholz entlässt Christian Lindner und stellt Vertrauensfrage im Bundestag

Bundeskanzler Scholz entlässt Finanzminister Lindner und fordert Vertrauensfrage aufgrund fehlenden Kompromisswillens und eigennütziger Politik.

Scholz stellt Vertrauensfrage.
Foto: Michael Kappeler/dpa

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat Finanzminister Christian Lindner entlassen und plant, am 15. Januar im Bundestag die Vertrauensfrage zu stellen. Die Erklärung im Wortlaut:

“Sehr geehrte Damen und Herren! Ich habe gerade den Bundespräsidenten gebeten, den Bundesminister der Finanzen zu entlassen. Ich sehe mich gezwungen, diesen Schritt zu unternehmen, um Schaden von unserem Land abzuwenden. Wir benötigen eine handlungsfähige Regierung, die in der Lage ist, die erforderlichen Entscheidungen für unser Land zu treffen.

In den vergangenen drei Jahren war es mir wichtig. Jetzt ist es mir wichtig. Heute Mittag habe ich dem Koalitionspartner der FDP erneut ein umfassendes Angebot vorgelegt, um das Defizit im Bundeshaushalt zu decken, ohne das Land ins Chaos zu stürzen. Ein Angebot zur Stärkung Deutschlands in schwierigen Zeiten. Ein Angebot, das auch die Vorschläge der FDP berücksichtigt, aber gleichzeitig deutlich macht, dass wir angesichts der gemeinsamen Herausforderungen einen größeren finanziellen Spielraum benötigen.

Mein Angebot bestand aus vier Hauptpunkten. Erstens: Wir garantieren erschwingliche Energiekosten und begrenzen die Netzentgelte für unsere Unternehmen. Das stärkt den Wirtschaftsstandort Deutschland.

Zweitens: Es wird ein Paket geschnürt, das Arbeitsplätze in der Automobilindustrie und bei den zahlreichen Zuliefererbetrieben sichert.

Drittens: Eine Investitionsprämie wird eingeführt und die steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten werden erneut verbessert, um Unternehmen dazu zu bewegen, jetzt in Deutschland zu investieren.

Und viertens: Unsere Hilfe für die Ukraine wird erhöht, die sich auf einen harten Winter vorbereitet. Nach der Wahl in den USA sendet dies ein äußerst wichtiges Signal: Wir sind zuverlässig. Allerdings muss ich erneut feststellen: Der Bundesfinanzminister ist nicht bereit, dieses Angebot zum Wohl unseres Landes in der Bundesregierung umzusetzen. Ein solches Verhalten möchte ich unserem Land nicht länger zumuten.

Sehr geehrte Mitbürgerinnen und Mitbürger, ich hätte Ihnen gerne diese schwierige Entscheidung erspart. Besonders in Zeiten wie diesen, in denen die Unsicherheit zunimmt. In den USA hat Donald Trump die Präsidentschaftswahl eindeutig gewonnen. Ich habe ihm bereits heute gratuliert. Als deutscher Bundeskanzler ist es für mich selbstverständlich, dass ich gut mit dem zukünftigen Präsidenten der Vereinigten Staaten zusammenarbeiten werde. Gerade in unsicheren Zeiten ist ein enges transatlantisches Verhältnis von großer Bedeutung.

Es ist offensichtlich, dass Deutschland seine Verantwortung erfüllen muss. Es ist entscheidend, dass wir in Europa enger zusammenhalten und gemeinsam in unsere Sicherheit und Stärke investieren. Die Situation ist ernst, da Krieg in Europa herrscht und die Spannungen im Nahen Osten steigen. Gleichzeitig stagniert unsere Wirtschaft.

Der schwache Welthandel bereitet den Unternehmen Probleme. Die Energiepreise aufgrund des russischen Angriffskriegs und die Kosten für die Modernisierung unserer Wirtschaft müssen bewältigt werden. Meine Gespräche mit der Wirtschaft zeigen: Unsere Unternehmen benötigen Unterstützung, und zwar sofort. Wer in einer solchen Situation eine Lösung oder ein Kompromissangebot ablehnt, handelt verantwortungslos. Als Bundeskanzler kann ich das nicht akzeptieren.

In den letzten drei Jahren habe ich wiederholt Vorschläge gemacht, wie eine Koalition aus drei verschiedenen Parteien zu guten Kompromissen kommen kann. Es war oft schwierig und hat manchmal auch meine politische Überzeugung herausgefordert. Als Bundeskanzler ist es jedoch meine Pflicht, auf pragmatische Lösungen zum Wohle des Landes zu drängen. Leider wurden die notwendigen Kompromisse zu oft durch öffentlich inszenierten Streit und laute ideologische Forderungen übertönt. Bundesminister Lindner hat Gesetze sachfremd blockiert, kleinkariert parteipolitisch taktiert und mein Vertrauen gebrochen. Selbst die Einigung auf den Haushalt hat er einseitig aufgekündigt, obwohl wir uns bereits darauf geeinigt hatten. Es gibt keine Vertrauensbasis mehr für eine weitere Zusammenarbeit. Unter diesen Umständen ist eine ernsthafte Regierungsarbeit nicht möglich.

Wer in eine Regierung eintritt, muss seriös und verantwortungsvoll handeln. Er darf nicht abhauen, wenn es schwierig wird. Er muss bereit sein, Kompromisse im Interesse aller Bürger einzugehen. Christian Lindner jedoch verfolgt gerade nicht dieses Ziel. Er kümmert sich um seine eigene Klientel und um das kurzfristige Überleben seiner Partei. Gerade heute, einen Tag nach den wichtigen Wahlen in Amerika, ist solcher Egoismus unverständlich. Öffentliche Streitereien haben viel zu lange den Blick auf das verstellt, was diese Regierung gemeinsam erreicht hat.

In Bezug auf irreguläre Migration haben wir Fortschritte gemacht. Im Vergleich zum Vorjahr konnten wir sie zuletzt um mehr als 50 Prozent reduzieren. In Bezug auf sichere Energie und Klimaschutz machen wir große Fortschritte. Erstmals sind wir auf Kurs, um unsere Ausbauziele für Windkraft und Solarenergie tatsächlich zu erreichen. Die Inflation ist auf 2 Prozent gesunken, während die Reallöhne und Renten wieder steigen. Wir haben die Energieversorgung Deutschlands gesichert und die Energiepreise stabilisiert. Vor einigen Jahren musste fast jeder Vierte im Niedriglohnsektor arbeiten. Heute ist es nur noch jeder Siebte.

Das sind alles positive Nachrichten. Die Regierung aus SPD, Grünen und auch FDP hat all dies gemeinsam erreicht. Als Bundeskanzler habe ich einen Amtseid geleistet. Dieser Eid hat für mich eine große Bedeutung. Ich habe immer das Wohl unseres gesamten Landes im Auge. Meine feste Überzeugung lautet: Wir dürfen niemals innere, äußere und soziale Sicherheit gegeneinander ausspielen. Das gefährdet unseren Zusammenhalt. Am Ende gefährdet es sogar unsere Demokratie.

Warum sage ich das? Bundesminister Lindner hat öffentlich und entschieden eine völlig andere Politik gefordert. Er will Milliardenschwere Steuersenkungen für einige Spitzenverdiener und gleichzeitig Rentenkürzungen für alle Rentnerinnen und Rentner. Das ist nicht fair, das ist nicht gerecht. Steuergeschenke für wenige und zur Finanzierung ein Griff in die Tasche unserer Städte und Gemeinden. Ein Verzicht auf Investitionen in die klimafreundliche Modernisierung unseres Landes: Auch das ist das Ziel von Christian Lindner. Dies schafft Unsicherheit in unserer Wirtschaft und gefährdet unsere Chance, bei den Technologien der Zukunft an vorderster Front zu stehen. Die USA, China und andere Länder schlafen nicht.

Christian Lindner spricht verschleiert von der Erschließung von Effizienzreserven in unseren Sozialversicherungssystemen. Doch dahinter verbergen sich harte Einschnitte im Bereich Gesundheit und Pflege sowie eine geringere Sicherheit im Falle von Notlagen. Das ist respektlos gegenüber all jenen, die sich diese Sicherheiten mühsam erarbeitet haben, sowie gegenüber allen, die Steuern und Sozialabgaben leisten.

Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit. Und die Wirklichkeit für Deutschland ist: Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Sicherheitslage auf Jahre hinaus tiefgreifend verändert. Wir müssen erheblich mehr in unsere Verteidigung und in die Bundeswehr investieren. Übrigens gerade jetzt, nach dem Wahlausgang in den USA. 1,2 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer haben bei uns vor dem russischen Bombenterror Schutz gefunden. Das bleibt richtig. Mit bald 30 Milliarden Euro unterstützen wir die Ukraine in ihrem Abwehrkampf. Auch das tun wir deshalb, weil es unseren eigenen Sicherheitsinteressen dient.

Ein Sieg Russlands würde uns in vielerlei Hinsicht teuer zu stehen kommen. Die Unterstützung der Ukraine ist und bleibt von großer Bedeutung. Und ich betone auch deutlich: Ich bin nicht bereit, unsere Hilfe für die Ukraine und Investitionen in unsere Verteidigung auf Kosten des sozialen Zusammenhalts zu finanzieren, auf Kosten von Renten, Gesundheit oder Pflege. Beides ist notwendig. Sicherheit und Zusammenhalt.

Deshalb werde ich die Bürgerinnen und Bürger auch nicht vor die Wahl stellen: Entweder wir investieren genug in unsere Sicherheit oder wir investieren in gute Arbeitsplätze, in eine moderne Wirtschaft und eine funktionierende Infrastruktur. Dieses Entweder-Oder ist Gift. Entweder Sicherheit oder Zusammenhalt. Entweder die Ukraine unterstützen oder in Deutschlands Zukunft investieren: Diesen Gegensatz aufzumachen ist falsch und gefährlich. Das ist Wasser auf die Mühlen der Feinde unserer Demokratie. Vor allem aber ist dieses Entweder-Oder auch vollkommen unnötig. Denn Deutschland ist ein starkes Land. Unter allen großen wirtschaftsstarken Demokratien haben wir mit weitem Abstand die geringste Verschuldung.

Es gibt Möglichkeiten, wie wir die Finanzierung unserer Gemeinschaft und ihrer Aufgaben solide gestalten können. Es gibt Lösungen für einen Haushalt, der gleichzeitig innere, äußere und soziale Sicherheit stärkt. Eine solche Lösung habe ich vorgeschlagen. Das Grundgesetz sieht in Artikel 115 ausdrücklich vor, in einer außergewöhnlichen Notsituation einen Überschreitensbeschluss zu fassen, so wie es die Koalition Ende des vergangenen Jahres übrigens genau für diesen Fall vereinbart hatte. Der russische Angriffskrieg, der nun schon im dritten Jahr tobt, sowie all seine Folgen sind eine solche Notsituation.

Wenn es eine Notsituation gibt, dann hat die Bundesregierung nicht nur das Recht zu handeln, sondern ist dazu verpflichtet. Was passiert als nächstes? Bundesminister Lindner wird vom Bundespräsidenten entlassen. Mit Vizekanzler Robert Habeck bin ich einer Meinung. Deutschland benötigt rasch Klarheit über den zukünftigen politischen Kurs.

Der reguläre Termin für die Bundestagswahl im Herbst nächsten Jahres liegt noch in weiter Ferne. In den verbleibenden Sitzungswochen des Bundestages bis Weihnachten werden wir alle Gesetzentwürfe zur Abstimmung stellen, die keinerlei Aufschub dulden.

Zu den Maßnahmen gehören die Kompensation der kalten Progression, damit ab dem 1. Januar alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr Netto vom Brutto haben. Zu den Maßnahmen gehört die Sicherung der gesetzlichen Rente. Zu den Maßnahmen gehört die zügige Umsetzung der Regeln des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Zu den Maßnahmen gehören Sofortmaßnahmen für unsere Industrie, über die ich derzeit mit Unternehmen, Gewerkschaften und Industrieverbänden spreche.

Bis zur letzten Sitzung des Bundesrates in diesem Jahr, am 20. Dezember, müssen diese Beschlüsse gefasst sein. Gleich in der ersten Sitzungswoche des Bundestages im neuen Jahr werde ich dann die Vertrauensfrage stellen, damit der Bundestag am 15. Januar darüber abstimmen kann. So können die Mitglieder des Bundestages entscheiden, ob sie den Weg für vorgezogene Neuwahlen frei machen.

Die Wahlen könnten gemäß den im Grundgesetz festgelegten Fristen spätestens bis Ende März stattfinden. “Meine Damen und Herren, ich werde nun sehr schnell auch das Gespräch mit dem Oppositionsführer, mit Friedrich Merz suchen. Ich möchte ihm anbieten in zwei Fragen, gerne auch mehr, die entscheidend sind für unser Land, konstruktiv zusammenzuarbeiten: Bei der schnellen Stärkung unserer Wirtschaft und unserer Verteidigung.”

Unsere Wirtschaft kann nicht warten, bis Neuwahlen stattgefunden haben. Wir brauchen jetzt Klarheit darüber, wie wir unsere Sicherheit und Verteidigung in den kommenden Jahren solide finanzieren können, ohne den Zusammenhalt im Land zu gefährden. Angesichts der Wahlen in Amerika ist dies vielleicht dringender denn je. Es ist wichtig, die richtige Entscheidung für unser Land zu treffen. Daher werde ich mit der Opposition das Gespräch suchen.

Als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland werde ich weiterhin alles in meiner Macht Stehende tun, um unser Land durch diese herausfordernde Zeit zu führen. Ich bin optimistisch, dass wir gestärkt aus dieser Krise hervorgehen werden, wenn wir die richtigen Entscheidungen treffen.

Ich möchte noch eine persönliche Bemerkung hinzufügen. Ich habe zu Beginn über die Wichtigkeit gesprochen, Kompromisse einzugehen. Diese Fähigkeit dürfen wir nicht verlieren. Wer in den letzten Wochen in die USA geschaut hat, hat ein Land erlebt, das tief gespalten ist. Ein Land, in dem politische Differenzen Freundschaften und Familien zerstört haben, wo Ideologie die Zusammenarbeit über politische Grenzen hinweg fast unmöglich gemacht hat. Das darf uns in Deutschland nicht passieren. Gerade weil wir auch in Zukunft mit Wahlergebnissen konfrontiert sein werden, die Kooperation und Kompromisse erfordern. Das ist oft mühsam, aber genau das hat Deutschland stark gemacht. Das zeichnet uns aus, und daran arbeite ich als Ihr Bundeskanzler. Vielen Dank.»

[Olaf Scholz entlässt Christian Lindner und stellt Vertrauensfrage im Bundestag],[Bundeskanzler Scholz entlässt Finanzminister Lindner und fordert Vertrauensfrage aufgrund fehlenden Kompromisswillens und eigennütziger Politik.]

 

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dpa