Mobiles Menü schließen
Startseite Schlagzeilen

Plünderungen und Chaos im Gazastreifen bedrohen Hilfslieferungen

Hungernde Menschen kämpfen um Lebensmittel, während Hilfsgüter auf dem Weg geplündert werden. Es herrscht Chaos und Verzweiflung auf den Straßen.

Palästinenser warten inmitten einer Hungerkrise auf Lebensmittel aus einer Wohltätigkeitsküche. (Archivbild)
Foto: Omar Ashtawy/APA Images via ZUMA Press Wire/dpa

Die Warnungen vor einer drohenden Hungersnot im umkämpften Gazastreifen werden immer lauter. Obwohl Israel seit gut einer Woche wieder mehr Hilfslieferungen in den weitgehend zerstörten Küstenstreifen lässt, erreichen viele der Güter nicht diejenigen, die sie dringend benötigen. Ein Großteil der Lieferungen wird bereits auf dem Weg im Chaos nach 22 Monaten Krieg geplündert, entweder von hungernden Zivilisten oder, wie es aus deutschen Sicherheitskreisen heißt, von der islamistischen Hamas oder anderen kriminellen Organisationen.

Rangelei um einen Sack Mehl

Hatem Abu Rami, ein 42-jähriger Vater von fünf Kindern beschreibt die Verzweiflung auf den Straßen. «Wenn die Lastwagen unser Gebiet erreichen, sind sie bereits von Hunderten Menschen gestürmt worden. Es gibt keine Organisation, keine Sicherheit, nur eine Welle hungriger Familien, die auf die Hilfslieferungen zurennen.» 

Er habe selbst gesehen, wie Leute die Säcke auf den Lastwagen aufrissen, noch bevor sie überhaupt anhielten. «Ich sah zwei Männer, die sich um einen Sack Mehl rangelten, während neben ihnen Kinder weinten», erzählt der Mann aus der Stadt Gaza, der mit seiner Familie derzeit in einem Zelt in Deir al-Balah Zuflucht gefunden hat. «Das ist kein Diebstahl – das ist Hunger. Die Menschen versuchen einfach nur zu überleben.»

Immer wieder tödliche Vorfälle nahe der Verteilungszentren

Im März verhängte Israel eine fast vollständige Blockade von Hilfslieferungen in den Gazastreifen im Krieg gegen die islamistische Hamas. Dies sollte den Druck auf die Terrororganisation erhöhen, um die verbliebenen 50 Geiseln freizulassen. Ab Mai wurden dann wieder kleinere Mengen von Hilfslieferungen erlaubt. Seit gut einer Woche erlaubt Israel nach internationalem Druck nicht nur Luftangriffe, sondern gewährt auch täglich rund 200 Lastwagen von UN- und anderen Organisationen die Einfahrt in das abgeriegelte Küstengebiet.

Die Gaza Humanitarian Foundation (GHF), die sowohl von Israel als auch von den USA unterstützt wird, begann Ende Mai mit der Verteilung von Hilfsgütern. Dies geschieht zeitgleich mit den Bemühungen internationaler Hilfsorganisationen, um sicherzustellen, dass die Hamas keine Lebensmittel abfängt.

Doch in der Nähe der vier GHF-Zentren im Gazastreifen gab es wiederholt tödliche Zwischenfälle. Laut der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde wurden bisher etwa 1.500 Menschen getötet, als sie versuchten, Hilfsgüter zu erhalten. Hilfesuchende müssen häufig gefährliches Kriegsgebiet durchqueren, um an Hilfslieferungen zu gelangen.

Jede Hilfslieferung als chaotisches und gefährliches Ereignis

Laut Nisrin al-Assar, 29-jährige Freiwillige einer örtlichen Hilfsorganisation in Chan Junis, hat das Fehlen eines funktionierenden Verteilungssystems jede Hilfslieferung in ein chaotisches und gefährliches Ereignis verwandelt: «Wir versuchen, Reihen zu bilden, die Menschen zu ordnen, aber es hält nie lange vor.» 

Die Menschen seien «schwach, erschöpft und verzweifelt», erzählt die junge Frau. «Manchmal kommen bewaffnete Personen, reißen die Kontrolle an sich, drängen alle beiseite und laden die Hilfsgüter in ihre eigenen Fahrzeuge.» Sie habe gesehen, wie UN-Mitarbeiter umkehrten, «weil es einfach zu gefährlich war». Die Zivilbevölkerung bekomme die Hilfe dann nie zu sehen. «Es ist herzzerreißend. Uns bleibt nur, die Leute zu beruhigen, während sie zusehen müssen, wie das Essen davongefahren wird.»

Schockierende Videos abgemagerter Hamas-Geiseln

Terrororganisationen im Gazastreifen haben kürzlich Videos von Geiseln veröffentlicht, die bis auf die Knochen abgemagert sind. Einer von ihnen ist auch ein deutscher Staatsbürger. Die Aufnahmen haben auch international Entsetzen und Empörung ausgelöst.

Offenbar möchten sie damit Israel unter Druck setzen und verdeutlichen, dass auch die Geiseln unter Lebensmittelknappheit leiden. Im letzten veröffentlichten Video bildete jedoch der Unterarm eines Entführers, der gut genährt wirkte, einen starken Kontrast zur abgemagerten Geisel.

Gegenseitige Schuldzuweisungen

Israel beschuldigt die Hamas wiederholt, Hilfsgüter unter ihre Kontrolle zu bringen, aber die Organisation bestreitet dies. Die UN haben ebenfalls erklärt, dass Israel keine Beweise vorgelegt hat. Bewohner des Gazastreifens bestätigen jedoch, dass auch die Hamas an den Plünderungen beteiligt war.

Die Vereinten Nationen beschuldigen Israel, dass durch die Kriegsführung im Gazastreifen chaotische Bedingungen entstanden sind, die eine geordnete Verteilung von Hilfsgütern unmöglich gemacht haben. Im Gegenzug wirft Israel den UN vor, dass bereitstehende Hilfslieferungen im Gazastreifen nicht verteilt wurden.

Hilfslieferungen über vier Übergänge nach Gaza

Ein Sprecher der zuständigen Cogat-Behörde teilte auf Anfrage mit, dass derzeit vier Übergänge in den Gazastreifen aktiv seien, darunter die wichtigsten Kerem Schalom im Süden und Zikim im Norden. Die Verteilung der Hilfsgüter obliege den internationalen Organisationen, so der Sprecher. Israel gestatte die Lieferungen in den Küstenstreifen. Innerhalb von gut einer Woche seien dort 1.200 Lastwagen von UN- und anderen internationalen Organisationen abgeholt worden.

Laut der israelischen Armee haben neben Deutschland auch Frankreich, Belgien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Jordanien und Ägypten Lebensmittelpakete über dem Gazastreifen abgeworfen. Dieser Einsatz wurde jedoch von UN-Seite als teuer und ungenügend kritisiert.

Apokalyptische Szenen

Nach seinem jüngsten Besuch im Gazastreifen beschrieb Ricardo Pires vom UN-Kinderhilfswerk Unicef die Lage als «absolut apokalyptisch» und warnte vor einem dramatischen Anstieg der Opferzahlen – immer mehr Kinder würden verletzt, getötet und litten an Mangelernährung. Für 88 Prozent des Gebiets im Gazastreifen gebe es inzwischen Räumungsaufrufe der israelischen Armee. Dies fordere die zwei Millionen Einwohner des ohnehin dicht besiedelten Küstenstreifens dazu auf, sich auf zwölf Prozent des Gebiets zusammenzudrängen. 

https://x.com/WFP/status/1951917782485881065

 

Das World Food Programme der Vereinten Nationen warnte davor, dass bereits über 500.000 Menschen im Gazastreifen unmittelbar von einer Hungersnot bedroht seien. Die Organisation setzt alles daran, lebenswichtige Nahrungsmittelhilfe an Familien zu verteilen.

Auf der Plattform X veröffentlichte WFP ein Video, auf dem zu sehen ist, wie Hunderte junge Männer auf Lastwagen mit Hilfslieferungen zurennen, diese stoppen, plündern und mit Lebensmittelboxen davonlaufen. Angesichts dieser Umstände fordert die Organisation: «Um alle vom Hungertod bedrohten Menschen sicher und dauerhaft erreichen zu können, brauchen wir eine Waffenruhe – JETZT.»

dpa