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Hungersnot in Gaza? Das sagen die offiziellen Kriterien

Seit März kamen nur vereinzelt Hilfslieferungen in den Gazastreifen. Helfer werfen Israel vor, die Bevölkerung gezielt auszuhungern. Israel bestreitet das. Wann spricht man von einer Hungersnot?

Hilfsorganisationen warnen vor einer Hungersnot im Gazastreifen.
Foto: Abdel Kareem Hana/AP/dpa

Experten warnen eindringlich vor einer Hungersnot im Gazastreifen. Seit März hat Israel nur gelegentlich Hilfslieferungen in das Küstengebiet gelassen. Dies hat zu einer Verschärfung der humanitären Lage dort geführt. Was das bedeutet, wird in Fragen und Antworten erläutert:

Was ist eine Hungersnot?

Eine «Hungersnot» ist ein seltenes und extrem dramatisches Ereignis. Ihre Ausrufung basiert auf streng festgelegten Kriterien. Diese sind von Experten der 2004 gegründeten IPC-Initiative (Integrated Food Security Phase Classification) mit einem Hauptbüro in Rom definiert. Die Kriterien sind international anerkannt und gelten für die Analyse und Bewertung von Nahrungskrisen in Ländern weltweit.

In der IPC-Skala gibt es fünf Stufen der Ernährungslage in einem Land oder einer Region. Die allerhöchste – und schlimmste – ist Stufe 5: «Katastrophe/Hungersnot». Darunter spricht man von Hungerkrisen.

Wann wird eine Hungersnot ausgerufen?

Für die Einstufung als Hungersnot («famine with solid evidence») müssen drei Kriterien gleichzeitig erfüllt sein: 

  • Mindestens 20 Prozent der Haushalte einer Region sind von einem extremen Lebensmittelmangel betroffen;
  • Mindestens 30 Prozent der Kinder leiden unter akuter Mangelernährung;
  • Täglich sterben mindestens zwei Erwachsene oder vier Kinder pro 10.000 Einwohner an Hunger oder aufgrund des Zusammenspiels von Unterernährung und Krankheit.

Wenn eine unabhängige Datenerhebung nicht oder nur eingeschränkt möglich ist, kann für eine Region auch eine Hungersnot mit hinreichenden Beweisen («famine with reasonable evidence») erklärt werden. Dabei sind für zwei der drei oben genannten Kategorien eindeutige Hinweise erfüllt; für den dritten ziehen Analysten Hinweise aufgrund der Gesamtlage heran. 

Ein Beispiel dafür ist der Gazastreifen: Die UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) hat elf Mitarbeiter vor Ort, die bei jeder IPC-Erhebung Unterstützung leisten. Trotzdem fehlen derzeit aufgrund der begrenzten Zugangsmöglichkeiten und der von der Hamas kontrollierten Behörden unabhängige, umfassende Daten.

Wer ruft eine Hungersnot offiziell aus?

Grundsätzlich erstellen die IPC-Experten die fachliche Einschätzung. Die offizielle Ausrufung liegt «in der Verantwortung entweder der Regierung und des Staates selbst oder von autorisierten Institutionen» wie etwa UN-Vertretern, erklärt ein ranghoher FAO-Vertreter, Abdulhakim Rajab Elwaer, der Deutschen Presse-Agentur.

Das sogenannte Famine Review Committee steht zwischen der IPC und einer potenziellen offiziellen Erklärung einer Hungersnot. Es setzt sich aus unabhängigen Experten zusammen, die einberufen werden, um die Daten und Einschätzungen der IPC zu überprüfen. Basierend auf diesen Informationen können sie eine Empfehlung aussprechen. UN-Vertreter können dann eine Hungersnot öffentlich bekannt geben, obwohl betroffene Regierungen dies oft nicht anerkennen, wie Elwaer sagt.

Warum wird eine Hungersnot nicht immer sofort erklärt?

Normalerweise beginnt die Krise nicht plötzlich, sondern verschärft sich oft über Monate hinweg – unter Bedingungen, die eine formale Klassifizierung erschweren. Ein Merkmal der IPC-Berichte ist, dass sie einen Trend aufzeigen, da sie in regelmäßigen Abständen erscheinen, erklärt Elwaer. Auf diese Weise kann beobachtet werden, ob sich die Situation verbessert oder weiter verschärft.

Zudem ist es in Kriegsgebieten häufig äußerst herausfordernd, zuverlässige Daten zur Sterblichkeitsrate oder Gesundheitssituation zu sammeln, was eine genaue Bewertung der Lage erschwert. Gelegentlich versuchen auch Staaten oder Konfliktparteien, eine Hungersnot zu bagatellisieren, um Kritik oder Konsequenzen zu umgehen.

Wann wurde zuletzt eine Hungersnot ausgerufen?

Laut Angaben des IPC wurden in den letzten 15 Jahren vier Hungersnöte bestätigt: 2011 in Somalia, 2017 und 2020 im Südsudan und zuletzt 2024 im Sudan.

Im Jahr 2011 starben in Teilen Somalias mehr als 250.000 Menschen an Hunger. Die Regionen waren unter der Kontrolle der islamistischen Miliz Al-Shabab, die nur begrenzt humanitäre Hilfe zuließ. Im Südsudan führten langjährige Konflikte und wirtschaftlicher Verfall 2017 zu einer Notlage, die sich 2020 auf das gesamte Land ausweitete. Bei der Hungersnot im Bürgerkriegsland Sudan 2024 erfüllten mindestens fünf Gebiete die Kriterien einer Hungersnot, wie von den Experten festgestellt.

Wieso wurde für den Gazastreifen noch keine Hungersnot erklärt?

Der gesamte Gazastreifen befindet sich derzeit auf Stufe vier der IPC-Skala («Emergency/Notfall»). Dies bedeutet unter anderem, dass laut IPC viele Haushalte nicht ausreichend Nahrung haben. Dies führt zu einer sehr hohen akuten Unterernährung und überhöhter Sterblichkeit. In dieser Phase ist es notwendig, Nothilfe mit Nahrungsmittellieferungen bereitzustellen, um zu verhindern, dass Menschen an Unterernährung sterben.

Phase fünf setzt – wie oben bereits beschrieben – formell einen extremen Mangel an Nahrungsmitteln, akute Unterernährung und eine bestimmte Zahl hungerbedingter Todesfälle voraus. Die Experten von IPC warnten diese Woche, dass die ersten beiden Kriterien zumindest in Teilen des Gazastreifens bereits erfüllt werden – extremer Mangel an Nahrungsmitteln praktisch in den meisten Teilen des Gazastreifens und akute Unterernährung in Gaza-Stadt.

In dem abgeriegelten Küstengebiet zeigt sich außerdem ein negativer Trend: Zwischen den IPC-Berichten vom Dezember, Mai und dem Aktuellen hat sich die Gesamtsituation der Bevölkerung verschlechtert.

Konkret bedeutet das im Gazastreifen nach IPC-Angaben aktuell: 39 Prozent der Bewohner müssen teils mehrere Tage ohne eine einzige Mahlzeit auskommen. Mehr als eine halbe Million Menschen, also fast ein Viertel der Bevölkerung, erlebe bereits «hungersnot-ähnliche Bedingungen.» Vom Famine Review Committee heißt es: «Ohne rasche und konzertierte Maßnahmen ist eine Hungersnot unvermeidlich.»

Wie neutral ist die Einschätzung von IPC?

IPC ist eine internationale Initiative, in der Regierungen, UN-Organisationen wie die FAO, das Kinderhilfswerk Unicef und das Welternährungsprogramm (WFP) sowie NGOs und weitere Partner zusammenarbeiten, um Ernährungskrisen verlässlich einzuschätzen.

Örtliche Teams sammeln in den betroffenen Ländern Daten zu Ernährung, Preisen oder Gesundheit. Diese Informationen werden in standardisierte IPC-Modelle integriert. Nationale IPC-Arbeitsgruppen, bestehend aus Regierungsvertretern, UN-Agenturen, NGOs und Wissenschaftlern, analysieren dann die Situation und führen die Klassifizierung durch.

Wenn ein Land möglicherweise Phase fünf erreicht hat, also eine Hungersnot, überprüft schließlich das Famine Review Committee (FRC), eine Gruppe aus hochrangigen, neutralen Experten für Ernährung und Statistik, laut IPC diese Daten auf technische Genauigkeit und Neutralität der Analyse, bevor die Ergebnisse bestätigt und kommuniziert werden.

Hat Israel die IPC in der Vergangenheit bereits kritisiert?

Ja, zum Beispiel anlässlich eines früheren IPC-Berichts vom Mai dieses Jahres, der auch schon das Risiko einer drohenden Hungersnot unterstrich. Die israelische Militärbehörde Cogat, die die Hilfslieferungen in den Gazastreifen genehmigt (oder blockiert), schrieb damals in einer Erklärung: «Selbst aus der eigenen Analyse der IPC geht hervor, dass im Gazastreifen keine Hungersnot herrscht. Der Begriff „drohende Hungersnot“ ist irreführend, da er sich auf zukünftige Szenarien bezieht, die die IPC prognostiziert, die aber seit Kriegsbeginn wiederholte Male nicht einzutreten pflegten.»

Wie sieht Israel die Lage im Gazastreifen?

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sagte jüngst: «Es gibt keine Politik des Aushungerns im Gazastreifen, und es gibt keinen Hunger im Gazastreifen.» Auch andere israelische Politiker betonen stets, dass es keine Hungersnot in dem abgeriegelten Küstenstreifen gebe. 

Israel hat seit Sonntag aufgrund wachsender internationaler Kritik an der dramatischen Versorgungslage im Gazastreifen wieder größere Hilfslieferungen über Land zugelassen und auch Luftabwürfe erlaubt.

Was bringt die offizielle Ausrufung einer Hungersnot?

Dies hat auf der einen Seite einen psychologischen Effekt. Einige Regierungen und Organisationen greifen erst dann richtig ein, wenn eine offizielle Erklärung vorliegt – obwohl die Anzeichen schon lange vorhanden sind. Dadurch werden mehr Gelder für die Unterstützung freigegeben. Ähnlich verhielt es sich bei der Corona-Pandemie: Obwohl die Situation Anfang 2020 zunehmend kritisch wurde, haben viele Länder erst den Krisenmodus aktiviert, als die Weltgesundheitsorganisation (WHO) offiziell von einer Pandemie sprach.

Der FAO-Vertreter betont, eine formelle Ausrufung sei «extrem notwendig». Zwar werde bei menschengemachten Krisen eine solche Erklärung von Regierungen oft vermieden, weil sie faktisch belege, dass die Hungersnot nicht naturbedingt, sondern politisch verursacht worden sei. Das mache die Verantwortlichen angreifbar. «Es ist eine direkte Anschuldigung», so Elwaer. 

Laut Elwaer wird eine offizielle Ausrufung durch die IPC-Partner als gemeinsames Urteil der internationalen Gemeinschaft angesehen. Sie könnte auch als Grundlage für Maßnahmen des Internationalen Gerichtshofs, des UN-Sicherheitsrats oder einzelner Staaten dienen – beispielsweise für Sanktionen oder politischen Druck.

dpa