Ukraine setzt erstmals westliche Marschflugkörper gegen russische Ziele ein, während Kämpfe in Donezk weitergehen.
Neue Eskalation im Ukraine-Konflikt: Einsatz von Marschflugkörpern gegen Russland
Die Ukraine hat einem Bericht des Instituts für Kriegsstudien (ISW) zufolge nach weitreichenden Raketen offenkundig auch erstmals Marschflugkörper aus westlicher Produktion gegen Ziele in Russland eingesetzt. In dem Bericht der in Washington ansässigen Denkfabrik, der auf Aufnahmen nach dem Angriff basiert, wurde in der Nacht zum Mittwoch das Hauptquartier für die Kursk-Gegenoffensive getroffen. Demnach wurde das russisch-nordkoreanische Hauptquartier in der Stadt Marjino «erfolgreich» mit Marschflugkörpern vom britischen Typ Storm Shadow und auch mit Kampfdrohnen attackiert.
In seiner Analyse bezieht sich das Institut auf Aufnahmen nach dem vermeintlichen Angriff, der dem Barjatinski-Gut in Marjino gegolten haben soll. Bei Kursk hat die russische Armee knapp 50.000 Soldaten mobilisiert, darunter etwa 10.000 Nordkoreaner, um eine Gegenoffensive zu starten und die von ukrainischen Truppen seit Sommer besetzten Gebiete zurückzuerobern.
Nachdem Washington entschieden hat, der Ukraine den Einsatz weitreichender Waffen gegen Ziele auf russischem Staatsgebiet zu erlauben, wurde auch über den möglichen Einsatz ähnlicher Waffensysteme aus Großbritannien spekuliert. Die Regierung in London hat sich zunächst nicht dazu geäußert.
«Wir nutzen alle Mittel zur Verteidigung»
Auch der ukrainische Verteidigungsminister Rustem Umerow wollte den möglichen Einsatz des Waffensystems Storm Shadow weder bestätigen noch dementieren. «Wir nutzen alle Mittel zur Verteidigung unseres Landes, daher werden wir keine Details verraten», sagte er dem US-Sender CNN. «Aber wir geben zu verstehen, dass wir fähig und auch in der Lage zu Gegenschlägen sind.»
Die Luft-Boden-Marschflugkörper Storm Shadow haben eine Reichweite von über 250 Kilometern und können für gezielte Angriffe auf Ziele wie Bunker und wichtige Infrastrukturen eingesetzt werden. Sie sind identisch mit den französischen Scalp-Raketen.
Vor dem kürzlich gemeldeten Angriff in Marjino hatte die Ukraine ein russisches Waffenlager in der Region Brjansk mit weitreichenden amerikanischen ATACMS-Raketen angegriffen. Der Generalstab in Kiew bestätigte einen Angriff auf ein russisches Munitionsdepot bei der Stadt Karatschew.
Ukraine setzt Evakuierung im Osten fort
Die ukrainischen Verteidiger in der Region Donezk stehen weiterhin unter starkem Druck durch die russischen Truppen. Inzwischen wird die Evakuierung von Zivilisten fortgesetzt. Seit Anfang August haben die ukrainischen Behörden bereits 1,17 Millionen Zivilisten aus den von ihnen kontrollierten Teilen der Region Donezk in andere Teile der Ukraine gebracht, wie die regionale Militärverwaltung laut Angaben der Agentur Ukrinform berichtete. Derzeit befinden sich noch fast 324.000 Zivilisten in dem Gebiet, das Russland noch unter seine Kontrolle bringen möchte.
Die Region Donezk beherbergt die stark umkämpften Brennpunkte Pokrowsk und Kurachowe. Dort haben russische Truppen kürzlich Geländegewinne erzielt, was die ukrainische Militärführung weitere Rückschläge befürchten lässt.
Allein bei Pokrowsk seien am Dienstag 33 russische Angriffe mit Unterstützung von Artillerie und Kampfflugzeugen registriert worden, berichtete der Generalstab in Kiew. «Die Lage ist schwierig, aber unter Kontrolle», hieß es. Bei Kurachowe traten russische Einheiten demnach insgesamt 23 Mal zu Angriffen gegen die ukrainischen Verteidigungslinien an. Die Angaben der Kriegsparteien lassen sich in der Regel kaum unabhängig überprüfen.
Selenskyj: Panik hilft nur Russland
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj rief die Bevölkerung der Ukraine dazu auf, keine Panik zu verbreiten. «Die informative Aufladung, die es heute gab, die panischen Nachrichten, die verschickt wurden, alles das hilft nur Russland», sagte er in seiner abendlichen Videobotschaft. Russland sei natürlich ein «verrückter Nachbar», aber dies gelte am 1.001. Kriegstag genauso wie an jedem anderen Kriegstag zuvor. Die Ukrainer hingegen sollten sich nicht verrückt machen lassen – die Flugabwehr werde weiter verstärkt, sagte er.
Selenskyj äußerte sich vor dem Hintergrund der Schließung einiger Botschaften in Kiew, was Unruhe in der Bevölkerung geschürt hatte. Viele seiner Landsleute sind besorgt, dass Russland den Konflikt erneut eskalieren lassen könnte, nach Berichten über den Einsatz weitreichender westlicher Waffen seitens der Ukraine gegen russisches Territorium. Laut inoffiziellen Medienberichten soll die Ukraine Russland mit ATACMS-Raketen angegriffen haben, bevor Moskau am Wochenende Kiew massiv mit Raketen beschossen hatte.
Neues Waffenpaket aus den USA
Selenskyj erwähnte in seinem Video auch die zusätzliche Militärhilfe für sein Land. Die US-Regierung hat ein Rüstungspaket im Wert von 275 Millionen Dollar bereitgestellt. Darin enthalten sind Drohnen, Artilleriegeschosse und Himars-Raketen sowie Minen, die Selenskyj als besonders wichtig für die Abwehr russischer Sturmangriffe im Osten des Landes bezeichnete. Das Weiße Haus hatte zuvor die Lieferung von Schützenminen, auch bekannt als Antipersonenminen, an die Ukraine genehmigt, um die Verteidigung der gefährdeten Frontabschnitte im Osten des Landes zu unterstützen.
Merkel wollte keinen schnellen Nato-Beitritt der Ukraine
Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in ihrer Amtszeit den Wunsch der Ukraine nach einem schnellen Nato-Beitritt auszubremsen versucht, weil sie nach eigenen Worten bereits damals eine militärische Antwort Russlands befürchtete. So schildert es die 70-jährige Christdemokratin in ihren am Dienstag erscheinenden Memoiren mit dem programmatischen Titel «Freiheit», aus denen die «Zeit» vorab einen Auszug veröffentlichte. Ihre Politik gegenüber der Ukraine wird Merkel in Kiew bis heute vorgehalten.
Bei dem entscheidenden Nato-Gipfel 2008 in Bukarest wurde der Beitrittskandidaten-Status der Ukraine und Georgiens abgelehnt. Am Ende stand ein Kompromiss, der aber einen Preis hatte, wie Merkel schreibt: «Dass Georgien und die Ukraine keine Zusage für einen MAP-Status (Beitrittskandidaten-Status) bekamen, war für sie ein Nein zu ihren Hoffnungen. Dass die Nato ihnen zugleich eine generelle Zusage für ihre Mitgliedschaft in Aussicht stellte, war für (Kremlchef Wladimir) Putin ein Ja zur Nato-Mitgliedschaft beider Länder, eine Kampfansage.»
Die Ukraine hofft nach wie vor auf eine Mitgliedschaft in der Nato. Präsident Selenskyj hat die Aufnahme seines Landes in das Bündnis zu einem zentralen Bestandteil seines sogenannten Siegesplans gemacht. Obwohl die Nato ihre Unterstützung für die Ukraine wiederholt bekräftigt hat, wird ein Beitritt des Landes als unwahrscheinlich angesehen, solange es sich im Kriegszustand befindet.