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Ist das neue Wahlrecht der Ampel verfassungskonform?

Im kommenden Jahr soll der Bundestag nach neuem Wahlrecht gewählt werden. Gegen die Reform gehen unter anderem Union und Linke am obersten deutschen Gericht vor. Sie haben viel zu verlieren.

Mit einer Reform des Bundeswahlgesetzes sollte die Größe des Bundestags beschränkt werden. Aber ist sie verfassungskonform?
Foto: Michael Kappeler/dpa

Seit etwas mehr als einem Jahr ist die von der Ampel-Koalition eingeführte Reform des Bundestagswahlrechts in Kraft. Bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr soll sie erstmals angewendet werden. Doch zunächst steht sie in Karlsruhe auf dem Prüfstand. Unter anderem die Union, Linke und die bayerische Staatsregierung gehen am Bundesverfassungsgericht gegen die Neuregelung vor.

Heute werden die höchsten Richterinnen und Richter Deutschlands ihr Urteil verkünden. Was sieht die Reform vor? Und was steht für die Kläger auf dem Spiel? Die wichtigsten Fragen und Antworten:

Warum wurde das Wahlrecht verändert?

Die Größe des Bundestags soll mit der Neuregelung des Wahlrechts stark reduziert werden. Schon 2020 hat die damalige große Koalition aus CDU/CSU und SPD eine Wahlrechtsreform verabschiedet – die jedoch nicht den gewünschten Effekt erzielte. Kritiker hatten sie von Anfang an als Reförmchen belächelt, da sie lediglich den Anstieg der Abgeordnetenzahl bremste. Bei der Wahl 2021 stieg die Zahl der Abgeordneten im Bundestag von 709 auf 736 – und bleibt somit weiterhin das größte frei gewählte Parlament weltweit.

Wie hat die neue Reform das Wahlrecht geändert?

Das neue Wahlrecht, das 2023 von SPD, Grünen und FDP beschlossen wurde, begrenzt die Anzahl der Sitze auf 630 Parlamentarier. Um dieses Ziel zu erreichen, werden zukünftig keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr vergeben. Überhangmandate entstanden bisher, wenn eine Partei mehr Direktmandate durch Erststimmen gewann, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis Sitze zustanden. Diese Mandate durfte sie behalten, während die anderen Parteien Ausgleichsmandate erhielten.

Die Grundmandatsklausel soll ebenfalls abgeschafft werden. Parteien zogen gemäß dieser Regelung in den Bundestag ein, auch wenn sie unter der Fünf-Prozent-Hürde lagen, aber mindestens drei Direktmandate gewannen.

Wer wehrt sich gegen die Reform – und warum?

195 Mitglieder der Unionsfraktion im Bundestag, die bayerische Staatsregierung, die Linke-Bundestagsfraktion sowie die Parteien CSU und Linke gehen gegen das Gesetz vor. Auch mehr als 4000 Privatpersonen haben eine Verfassungsbeschwerde eingereicht.

Gemäß dem Bundesverfassungsgericht fühlen sich die Antragsteller und Beschwerdeführer insbesondere in zwei Grundrechten verletzt: bei der Wahlrechtsgleichheit nach Artikel 38 des Grundgesetzes und beim Recht auf Chancengleichheit der Parteien nach Artikel 21 des Grundgesetzes. Vor allem für CSU und die Linke steht viel auf dem Spiel.

Worum geht es für CDU und CSU?

In Zukunft ist allein das Zweitstimmenergebnis einer Partei entscheidend für die Anzahl ihrer Sitze im Parlament – auch wenn sie mehr Direktmandate gewonnen hat. Die Wahlkreisgewinner mit dem schlechtesten Erststimmenergebnis gehen dann leer aus. Dies würde insbesondere die Unionsparteien betreffen.

Bei der Bundestagswahl 2021 sicherte sich die CSU 45 Direktmandate. Elf davon waren Überhangmandate, die sie nach dem neuen Wahlrecht nicht mehr erhalten würde. In Baden-Württemberg holte die CDU weitere zwölf Überhangmandate. Insgesamt waren dies 23 von 34 Überhangmandaten, die wiederum zu 104 Ausgleichsmandaten führten.

Der Wegfall der Grundmandatsklausel könnte für die CSU zudem besonders bitter werden. Würde sie bei der nächsten Wahl bundesweit hochgerechnet unter die Fünf-Prozent-Marke rutschen, flöge sie nach dem neuen Wahlrecht aus dem Bundestag – auch wenn sie wieder die allermeisten Wahlkreise in Bayern direkt gewinnen sollte. Bei der Wahl 2021 war die CSU bundesweit auf 5,2 Prozent der Zweitstimmen gekommen.

Warum ist das Urteil für die Linke so wichtig?

Die Grundmandatsklausel, die nun abgeschafft werden soll, hat die Linke bereits zweimal gerettet. Bei der Bundestagswahl 2021 scheiterte die Partei an der Fünf-Prozent-Hürde und zog nur dank drei Direktmandaten in das Parlament ein. Ähnlich erging es bereits 1994 der Vorgängerpartei PDS. Nach der Abspaltung des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) steckt die Linke erneut in einer tiefen Krise. Bei der Europawahl Anfang Juni erzielte sie nur noch 2,7 Prozent.

Das bedeutet: Die Drei-Mandats-Klausel könnte für die Partei eine Rettung sein, wenn sie weiterhin bestehen bleibt. Die Entscheidung des Karlsruher Urteils wird auch darüber entscheiden, ob der langjährige Abgeordnete Gregor Gysi im Jahr 2025 erneut kandidieren wird, um sein Berliner Direktmandat zu verteidigen. Zunächst vertritt der 76-jährige Anwalt seine Partei vor dem Verfassungsgericht.

Hatte das Gericht nicht erst zum Wahlrecht geurteilt?

Ja. Das war Ende November 2023 – bezog sich aber noch auf die Vorgängerreform des Wahlrechts. Diese winkte der Zweite Senat zwar mit Blick auf die Nachholwahl in Berlin durch. Die Vorsitzende Doris König und zwei Richter monierten aber die schwere Verständlichkeit der Regeln. In einem sogenannten Sondervotum hielten sie fest, den Wahlberechtigten werde eine Wahrnehmung ihres fundamentalen Rechts auf demokratische Selbstbestimmung «im Blindflug» zugemutet.

dpa