Der wohl künftige Kanzler Merz hat die Frage aufgeworfen, ob Deutschland unter Frankreichs Atom-Schutzschirm schlüpfen kann. Zwar reagiert Präsident Macron prompt positiv – aber ist das so einfach?
Kann die Atommacht Frankreich ganz Europa schützen?
Während Europa um einen möglichen Friedensdeal im Ukraine-Krieg ringt und um europäische Geschlossenheit nach dem Kurswechsel der USA bemüht ist, wird über die zukünftige nukleare Abschreckung diskutiert. Die Frage steht im Raum, ob Frankreich und möglicherweise auch Großbritannien die atomare Verteidigung Deutschlands und Europas übernehmen könnten – als Ergänzung zum US-Atomschirm oder falls Washington diesen Schutz im Nato-Verbund nicht mehr garantieren sollte.
Wie funktioniert das bestehende Nato-System der nuklearen Abschreckung für Deutschland?
Deutschland hat keine eigenen Atombomben und verlässt sich auf die Abschreckung durch die USA, die über die ganze Palette von kleineren («taktischen») bis hin zu den auch von ballistischen Raketen getragenen («strategischen») Atomwaffen verfügen. Die USA gewähren einigen Nato-Partnern – auch Deutschland – als Teil der sogenannten nuklearen Teilhabe im Kriegsfall Zugriff auf Atombomben.
Die Bundeswehr unterhält in Büchel in der Eifel eigene Tornado-Jets, die laut unbestätigten Berichten etwa 20 thermonukleare B61-Gravitationsbomben zum Ziel fliegen können. Deutschland hat somit Zugang zu den nuklearen Planungen in der Nato. Um diese Verpflichtung auch zukünftig erfüllen zu können, wurden in den USA Tarnkappenjets vom Typ F-35 bestellt.
Warum wird die Debatte jetzt geführt?
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat in den letzten Jahren wiederholt Gespräche über die europäische Dimension der französischen Atom-Abschreckung angeboten. Sein Ziel ist es, die strategische Souveränität Europas zu stärken. Macron möchte, dass Europa unabhängiger von den USA wird. Kritiker behaupten jedoch, dass Frankreich auch auf der Suche nach Geld für die Modernisierung seines Atomwaffenarsenals ist.
Das Thema ist jetzt besonders aktuell, da US-Präsident Donald Trump Zweifel an der Zuverlässigkeit Washingtons als Bündnispartner aufkommen lässt. Die Debatte erhielt Auftrieb durch Äußerungen des mutmaßlichen zukünftigen Bundeskanzlers Friedrich Merz. Kurz vor der Bundestagswahl sagte er im ZDF-Morgenmagazin, dass Gespräche mit den europäischen Atommächten Frankreich und Großbritannien über nukleare Teilhabe oder zumindest nukleare Sicherheit geführt werden müssten.
Worüber verfügt Frankreich?
Laut dem Friedensforschungsinstitut Sipri besitzt Frankreich 290 der weltweit etwa 12.100 Atomwaffen und ist damit nach Russland, den USA und China die viertgrößte Atommacht. Héloïse Fayet vom französischen Institut für Internationale Beziehungen Ifri meint: «Aus operationeller Sicht wird das französische Arsenal als ausreichend glaubhaft eingeschätzt, um Russland abzuschrecken.»
Das Land hat vier Atom-U-Boote, von denen Raketen mit Atomsprengköpfen mit einer Reichweite von etwa 10.000 Kilometern abgeschossen werden können. Frankreich kann auch aus der Luft Atomwaffen einsetzen. Seine Rafale-Kampfjets können die gut 50 Marschflugkörper des Landes mit Nuklearsprengköpfen abschießen. Diese haben offiziell eine Reichweite von etwa 500 Kilometern.
Wie viel Schutz bieten die französischen Waffen?
Die USA besitzen deutlich mehr Atomwaffen als Frankreich. Laut Sipri sind es gut 5.000. Die Expertin für nukleare Abschreckung Fayet geht davon aus, dass man auf den US-Schutzschirm auch mit einer Ausweitung der französischen Abschreckung nicht werde verzichten können. Darum gehe es aktuell aber auch nicht, sagte sie in der Zeitschrift «La Vie». Sie vermutet, dass US-Atomwaffen weiterhin in Europa bleiben und eine Ausweitung der französischen Abschreckung auch wegen der unterschiedlichen Waffen und der geografischen Lage anders aussehen würde.
Mehr als um die Anzahl von Atomwaffen gehe es um die Flexibilität des Arsenals, sagte der Spezialist für ballistische Waffensysteme Étienne Marcuz dem Magazin «Le Point». Es gelte, nukleare und konventionelle Fähigkeiten zu kombinieren.
Wie könnte eine Ausweitung der französischen Abschreckung aussehen?
Europäische Partner könnten nach Macron an den Übungen der französischen Atomtruppen teilnehmen. Paris könnte seinen Verbündeten vorschlagen, mit Eurofighter-Jets teilzunehmen, sagte Rüstungsexperte Marcuz der Zeitung «Le Figaro». Auch könnte Frankreich europäische Bomber mit französischen Atomwaffen bestücken, was technisch allerdings nicht so einfach wäre, da die Raketen bislang nur an Rafale-Jets montiert werden können, sagte der ehemalige Atom-U-Boot-Kommandant Jean-Louis Lozier der Zeitung.
Französische Jagdbomber könnten auch entlang der EU-Grenzen patrouillieren, ähnlich wie die amerikanischen B52 es regelmäßig tun. Zudem könnten Frankreichs strategische Luftstreitkräfte trainieren, von Flughäfen in anderen Ländern zu starten und zu landen, beispielsweise in Polen, Rumänien oder Finnland. Gemäß Expertin Fayet sind auch Lieferungen von Rafale-Jets und die Stationierung französischer Truppen in Partnerländern möglich.
Und was ist mit der Lagerung von Waffen?
Laut Rüstungsexperte Marcuz könnte Frankreich nach dem US-Vorbild auch Atomwaffen in Partnerländern stationieren. Dies würde den Abstand bei einem Angriff auf Europas Ostflanke verkürzen und die Herkunft der Bedrohung für einen potenziellen Feind erweitern.
Nach Ansicht der Franzosen sollten die Waffen jedoch weiterhin strenger französischer Kontrolle unterliegen und von französischen Streitkräften geschützt werden. Expertin Fayet zufolge ist eine Lagerung derzeit jedoch nicht Gegenstand der Diskussion.
Wer ist bei den französischen Waffen am Drücker?
Präsident Macron hat betont, dass die Entscheidung über die französischen Atomwaffen in den Händen Frankreichs und seines Staatschefs liegt.
Was ist mit Atommacht Großbritannien?
Die Briten haben vier U-Boote mit Atom-Antrieb im Einsatz, wovon immer mindestens eines auf See ist. Im Gegensatz zu Frankreich hat Großbritannien seine Abschreckung auch der Nato zur Verfügung gestellt. Laut einem Regierungssprecher setzt Großbritannien seine nukleare Abschreckung bereits ein, um andere europäische Staaten zu schützen.