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Neue Herausforderungen für die Bundeswehr

Die Bedrohung durch Russland verändert die Einsatzszenarien grundlegend. Tapferkeit und Entschlossenheit sind gefragt, um in chaotischen Situationen zu bestehen.

Abschluss der Nato-Übung Quadriga 2024
Foto: Kay Nietfeld/dpa

Mehr als 40 Monate Krieg in der Ukraine und die Bedrohung durch Russland haben die Einsatzszenarien der Bundeswehr grundlegend verändert. «Wirkung geht vor Deckung, denn es gibt keinen zweiten Sieger», sagt der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Alfons Mais. Sollte je eine militärische Verteidigung Deutschlands und seiner Nato-Partner nötig werden, sei es keine Option, in einem sicheren Feldlager zu warten. In Auslandseinsätzen war das noch möglich, und lange wurde die Bundeswehr auf sie ausgerichtet – doch inzwischen stehen wieder die Herausforderungen der Landes- und Bündnisverteidigung im Zentrum der Aufgaben.

Viele langjährige Soldaten und Reservisten sind durch den Verlauf des Krieges in der Ukraine betroffen. In Litauen wird eine deutsche Brigade einsatzbereit stationiert. Es wird diskutiert, ob und in welcher Form sich Deutschland an Sicherheitsgarantien für die Ukraine beteiligen könnte.

Die jungen Leute sind viel ernsthafter geworden

Auch die Nachwuchswerbung, die lange wie das Angebot eines ganz normalen Arbeitgebers angelegt war, ist wieder militärischer. «Ich glaube, dass unsere Soldatinnen und Soldaten alle wissen, was da auf sie zukommen kann. Und das merken wir auch. In den Gesprächen mit den jungen Leuten erlebe ich, dass sie viel ernsthafter geworden sind», sagt Mais, der im September seinen letzten Monat an der Spitze der Landstreitkräfte haben wird, der Deutschen Presse-Agentur. «Jemand, der sich heute zur Bundeswehr meldet, weiß, dass Krieg in Europa ist.»

In den letzten Monaten hat sich die Spannung erhöht. Sabotage und Spionage in Deutschland sowie die Vorbereitung auf mögliche militärische Zwischenfälle verändern die Truppe. Die blutigen Verteidigungskämpfe der Ukrainer dienen als Lektionen.

Dazu kommt: Eine militärische Auseinandersetzung kann zur Unzeit beginnen. «Uns muss bewusst sein, dass, wenn die Klingel geht, es uns in einem nicht optimalen Zustand oder zu einem nicht optimalen Zeitpunkt treffen kann. Damit müssen sich die Kommandeure gedanklich auseinandersetzen», sagt Mais. 

Um im Fall eines Angriffs gegen den russischen Militärapparat zu bestehen – aber auch schon zur glaubwürdigen Abschreckung – brauche es über die Bewaffnung hinaus Entschlossenheit. Man kann es «Mindset» oder Geisteshaltung nennen, einen Willen zur Verteidigung auch in Situationen, die dem einzelnen Menschen viel – mitunter unmenschlich viel – abverlangen können. Eine zutiefst zivile Gesellschaft tut sich schwer damit.

Kampf mit einem Gegner: Kein Beruf wie andere 

Oberstabsfeldwebel Jan Hecht hat im Sommer 2009 während einer Patrouille in Afghanistan diese Situation erlebt. «Der Kampf dauerte fünf Stunden, fünf hochintensive Stunden», sagte der Unteroffizier, der mit dem Ehrenkreuz für Tapferkeit ausgezeichnet ist.

Er und sein 36-köpfiger Zug sollten in der Provinz Kundus eine selten genutzte Verbindungsstraße auf Sprengfallen untersuchen, als nördlich von ihnen ein deutscher Spähtrupp angegriffen und in einen Schusswechsel verwickelt wurde. Hecht ließ seine Männer aufsitzen und versuchte den Spähtrupp zu unterstützen. Als sie sich näherten, wurden sie sofort von massivem Feindfeuer empfangen: Etwa 80 Angreifer hatten einen Hinterhalt gelegt, wie später festgestellt wurde.

«Zeit und Raum lassen sich im Nachhinein schwer beschreiben. Das ist eine Situation, wo Zeit nicht mehr fühlbar ist», erzählt er. «Das geht mal ganz schnell vorbei. Und dann gibt es wieder Phasen, die dauern extrem lange und man hat das Gefühl, es sind Stunden. In Wirklichkeit sind ein paar Minuten vergangen.» Die Soldaten kämpfen sich frei und werden etwas weiter noch in einen zweiten Kampf verwickelt.

Keine Gefühle wie Aggression oder Wut

«Beim ersten Auftreffen auf den Feind, Feuer überall, ist ganz viel Instinkt. Was kommt jetzt als Nächstes? Alles Instinkt, Erfahrung, Abarbeiten von dem, was man schon mal erlebt hat», sagt Hecht. «Das Ziel von Drillausbildung ist ja, in chaotischen Situationen zu funktionieren, ohne über das Handeln nachdenken zu müssen. Und eine Gefechtssituation ist so intensiv, dass ein rationales Denken über das, was mache ich als Nächstes, de facto nicht möglich ist.»

Gefühle wie Aggression oder Wut habe er nicht spüren können. Es seien Stunden unter Adrenalin, unter Hochdruck gewesen und er relativ emotionslos gewesen. «Es gibt so eine gewisse Entschlossenheit, die man an den Tag legen muss, um in so einer Situation zu bestehen. Wenn man diese Entschlossenheit nicht hat, dann kommt man vielleicht in ein Zaudern, das nachteilig sein kann», sagt der Soldat.

«Tapferkeit ist ein reflektierter Prozess»

Bislang wurden 33 Soldaten mit dem Ehrenkreuz geehrt. Sie dienen der Truppe als Vorbilder in Bezug auf Tatkraft und Führung – sowie überdurchschnittliche Tapferkeit.

Jeder Soldat schwört mit dem Eid, dass er tapfer ist. «Tapferkeit ist ein reflektierter Prozess. Sich damit auseinandersetzen, dass mir was passieren kann, dass ich möglicherweise jemandem Leid zufüge», sagt Mais.

«Wenn zu Tapferkeit dann in der konkreten Situation Mut hinzukommt, dann haben wir Menschen, die zu außergewöhnlichen Leistungen fähig sind. Menschen, die sich in besonderen Situationen selbst hintanstellen, um den Kameraden zu schützen, ihn aus der Gefahr zu bergen, oder den Auftrag auch bei größten Widerständen zu erfüllen.»

dpa