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Migrationsrechtler sieht bei Zurückweisungen offene Fragen

Drei nach Polen zurückgewiesene Somalier haben erreicht, dass Deutschland prüfen muss, welcher EU-Staat für ihre Asylverfahren zuständig ist. Doch was bedeutet das über die Einzelfälle hinaus?

Kurz nach dem Regierungswechsel waren die Grenzkontrollen verschärft worden. (Archivbild)
Foto: Gian Ehrenzeller/KEYSTONE/dpa

Laut dem Migrationsrechtsexperten Winfried Kluth ist es unklar, ob die Bundesregierung die vom Berliner Verwaltungsgericht als rechtswidrig eingestuften Zurückweisungen von Asylsuchenden dauerhaft beibehalten kann. Der Vorsitzende des Sachverständigenrats für Integration und Migration erklärte der Deutschen Presse-Agentur, dass Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) bereits vor Wochen angekündigt habe, dass die Bundesregierung eine andere Meinung zur Zurückweisung an den Binnengrenzen habe als frühere Regierungen.

Neue Praxis an den Grenzen

Am 7. Mai hat Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) angeordnet, die Grenzkontrollen zu intensivieren und Asylsuchende an der Grenze zurückzuweisen, jedoch mit Ausnahmen für Kinder und Schwangere.

Das Verwaltungsgericht Berlin hat am Montag in einer Eilentscheidung festgestellt, dass es rechtswidrig ist, Asylsuchende bei Grenzkontrollen auf deutschem Gebiet zurückzuweisen. Ohne Klärung, welcher EU-Staat für ihren Asylantrag zuständig ist, dürfen sie nicht abgewiesen werden.

Jurist Kluth sagte, diese Entscheidung liege «ganz auf der Linie der herrschenden Meinung im Migrationsrecht und der bisherigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs» (EuGH).

Im speziellen Fall wurden drei Somalier von Frankfurt (Oder) nach Polen abgeschoben.

Dobrindt strebt Hauptsache-Verfahren an

Bundesinnenminister Dobrindt sagte nach der Gerichtsentscheidung, er wolle die Praxis an der Grenze nicht ändern und ein Hauptsache-Verfahren anstreben. Man glaube, dass man dort «deutlich Recht bekommen» werde. 

Migrationsrechtsexperte Kluth betonte: «Die neue Bundesregierung will die Rechtsprechung dazu bringen, ihren Standpunkt zu ändern.» Angestrebt würden letztlich Entscheidungen des EuGH, die mehr Spielräume böten.

Es wird auch versucht, unter Berufung auf die Überlastung der Kommunen eine neue Argumentation für die Auslegung der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit gemäß Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union zu etablieren. Diese sogenannte Notlagenklausel erlaubt Ausnahmen.

«Ob man von der Lage in einzelnen Kommunen auf ganz Deutschland schließen kann, ist aber sehr fraglich», gab der Professor für Öffentliches Recht an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zu bedenken.

Wer stellt Ausnahmelage fest?

Solange das zuständige höchste Gericht nicht ausdrücklich anders entschieden habe, sei es zwar möglich, eine neue, bislang nicht etablierte Auslegung einer Norm anzustreben, erklärte Kluth. Der aktuelle Fall werfe aber auch die Frage auf, wer die Feststellung treffen könne, dass eine Ausnahmelage im Sinne von Artikel 72 vorliegt. «Das ist eine Entscheidung von großer Tragweite, weil damit der Vorrang des Unionsrechts partiell durchbrochen wird», sagte der Jurist.

Seiner Meinung nach sollte eine solche Entscheidung von der gesamten Bundesregierung oder sogar vom Bundestag getroffen werden – ähnlich wie die Entscheidung über die epidemische Lage von nationaler Tragweite in der Corona-Pandemie. Diese müsste dann auch offiziell den Nachbarländern und der EU-Kommission mitgeteilt werden.

dpa