Am 1. September fand in Sachsen die Landtagswahl statt. Jetzt endlich wird der Regierungschef gewählt. Oder doch nicht? Ob CDU-Mann Michael Kretschmer sein Amt verteidigen kann, ist ungewiss.
Riskanter Versuch: Ministerpräsidentenwahl in Sachsen
Etwa dreieinhalb Monate nach der Landtagswahl ist geplant, dass heute in Sachsen ein neuer Ministerpräsident gewählt wird. Der amtierende Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) strebt die Bildung einer Minderheitsregierung aus CDU und SPD an, da er keine eigene Mehrheit hat. Bei der Wahl werden der AfD-Partei- und Fraktionsvorsitzende Jörg Urban sowie der fraktionslose Matthias Berger (Freie Wähler) gegen ihn antreten. Wie der Prozess verläuft und wie die Minderheitsregierung funktionieren soll, wird sich zeigen.
Wer tritt an?
Kretschmer plant, sich erneut als Ministerpräsident von Sachsen wählen zu lassen. Er trat 2017 die Nachfolge seines Vorgängers Stanislaw Tillich (CDU) an. Zuvor war der gebürtige Görlitzer 15 Jahre lang Mitglied des Bundestags. Die Koalition aus CDU, SPD und Grünen, die Kretschmer seit 2019 führte, verlor bei der Landtagswahl ihre Mehrheit. Nach dem Scheitern der Verhandlungen über eine Brombeer-Koalition mit dem BSW setzt Kretschmer nun auf die SPD als einzigen Koalitionspartner. Um im ersten Wahlgang gewählt zu werden, fehlen ihm zehn Stimmen.
Urban hat am Dienstag offiziell seine Kandidatur bekannt gegeben. Es bleibt offen, ob der AfD-Vorsitzende bereits im ersten Wahlgang antreten wird. Urban betonte, dass er die Strategie seiner Kandidatur nicht preisgeben werde. Zuvor hatte seine Fraktion ihre Unterstützung für eine alleinige CDU-Regierung angeboten. Der gebürtige Meißner ist seit 2014 Mitglied des sächsischen Landtags für die AfD und wurde 2018 zum Parteivorsitzenden gewählt.
Berger, der als fraktionsloser Abgeordneter für die Freien Wähler im Landtag fungiert, bewirbt sich ebenfalls um das Amt des Ministerpräsidenten. Er strebt die Bildung einer Expertenregierung an und plant, alle Parteien daran zu beteiligen. Berger gewann bei der Wahl am 1. September ein Direktmandat und ist der einzige Vertreter der Freien Wähler im Landtag. Von 2008 bis 2024 war er Oberbürgermeister seiner Heimatstadt Grimma.
Wie wird der Ministerpräsident gewählt?
Bei der geheimen Wahl wird im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit benötigt – bei 120 Abgeordneten entspricht dies 61 Stimmen. Es wird nicht erwartet, dass Kretschmer diese Mehrheit erreicht, da CDU und SPD zusammen zehn Stimmen fehlen. Die CDU hat 41 Abgeordnete, die AfD 30. Das BSW ist mit 15 Mitgliedern vertreten, die SPD mit zehn. Grüne und Linke haben jeweils sieben bzw. sechs Sitze, die Freien Wähler einen.
In den nachfolgenden Wahlgängen genügt eine einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Gewählt wird die Person, die mehr Stimmen erhält als alle anderen Wahlvorschläge zusammen. Enthaltungen werden nicht berücksichtigt.
Wie funktioniert eine Minderheitsregierung?
CDU und SPD planen, zukünftig mit einem Konsultationsmechanismus, der andere Fraktionen frühzeitig in Gesetzesvorhaben einbindet, Mehrheiten im Landtag zu sichern. Gemäß dem Koalitionsvertrag soll es im Landtag die Möglichkeit geben, Positionen zu den wichtigen Vorhaben der Regierung zu äußern. Die verschiedenen Ansichten im Landtag sollen dann in den Gesetzgebungsprozess einfließen.
In Deutschland sind Minderheitsregierungen im Gegensatz zu Skandinavien, Spanien oder Kanada eine Seltenheit. Laut einer Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages waren sie in der Bundesrepublik bisher in der Regel Übergangslösungen. Zwei von der SPD geführte Minderheitsregierungen in Sachsen-Anhalt schafften es, volle Legislaturperioden zu absolvieren (1994 bis 2002).
In Thüringen führte bis vergangene Woche Bodo Ramelow (Linke) eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung an. Ihm fehlten vier Stimmen zur absoluten Mehrheit. Mit der CDU schlossen die Regierungsparteien einen «Stabilitätspakt» mit punktueller Zusammenarbeit in Sachfragen, der etwa ein Jahr hielt.
Am vergangenen Donnerstag übernahm Mario Voigt (CDU) als Regierungschef in Thüringen. Seine sogenannte Brombeer-Koalition aus CDU, BSW und SPD kommt auf 44 der 88 Sitze – das bedeutet ein Patt mit den beiden Oppositionsparteien AfD und Linke. Die Linke plant zwar keine Tolerierung der Regierung, hat sich aber mit den Koalitionsparteien auf ein Gesprächsformat verständigt, um zu «demokratischen Mehrheiten zu kommen».
Was passiert, wenn die Wahl scheitert?
Laut der sächsischen Verfassung muss der Ministerpräsident innerhalb von vier Monaten nach der Konstituierung des neuen Landtags gewählt werden. Die konstituierende Sitzung des neuen Landtags fand am 1. Oktober statt, sodass die Frist Anfang Februar 2025 abläuft. Falls heute nicht die erforderliche Mehrheit erreicht wird, können weitere Wahlgänge bis dahin stattfinden. Wenn es nicht gelingt, einen Regierungschef zu wählen, wird der Landtag aufgelöst und es kommt zu Neuwahlen.