Vor wenigen Tagen nahm Berlin den Gesprächsfaden mit Moskau wieder auf. Kurze Zeit später geht das russische Militär zu einem der schwersten Angriffe auf die Ukraine über.
Russland greift Ukraine massiv an – Tote und Zerstörungen
Das russische Militär hat einen der schwersten Luftangriffe auf die Ukraine seit Kriegsbeginn vor mehr als zweieinhalb Jahren verübt. In der Nacht und in den Morgenstunden setzten die Angreifer 120 Raketen und Marschflugkörper sowie 90 Drohnen ein, wie der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mitteilte. In etwa 140 Fällen sei die Flugabwehr erfolgreich gewesen. Es gab aber auch Tote und Verletzte sowie Schäden, vor allem einmal mehr an der Energieinfrastruktur des Landes.
Am Morgen waren in Kiew, der Hauptstadt der Ukraine, mehrere Explosionen zu hören, die von der Flugabwehr ausgelöst wurden. Zwei Wohnhäuser gerieten in Brand. Laut Bürgermeister Vitali Klitschko wurden zwei Frauen durch herabstürzende Trümmer verletzt, eine davon musste ins Krankenhaus gebracht werden.
Tote in Mykolajiw, Dnipropetrowsk und Lwiw
In der südukrainischen Großstadt Mykolajiw sind nach Behördenangaben durch Drohnen in der Nacht zwei Frauen getötet worden. «Verletzt wurden vier Erwachsene und zwei Kinder», schrieb der Militärgouverneur der Region, Witalij Kim, bei Telegram. Es seien mehrere Wohnhäuser, ein Hochhaus, ein Einkaufszentrum und eine Reihe von Autos beschädigt worden. Auch ein von Kim nicht näher benanntes Infrastrukturobjekt wurde demnach getroffen.
Im Gebiet Dnipropetrowsk im Südosten der Ukraine wurden zwei Eisenbahner beim Beschuss eines Depots getötet. Drei weitere wurden verletzt, so die ukrainische Eisenbahn. In Lwiw im Westen der Ukraine wurde eine Frau in einem Fahrzeug durch herabfallende Trümmer getötet. Als Vorsichtsmaßnahme stiegen in dem nahe gelegenen Polen Kampfjets auf.
Stromnetz unter Beschuss
Auch aus Saporischschja, Dnipro, Krywyj Rih und Odessa wurden Explosionen gemeldet. Laut Angaben der ukrainischen Luftwaffe wurden Dutzende Marschflugkörper und ballistische Raketen von strategischen Bombern auf Ziele im ganzen Land abgefeuert. Zuvor waren bereits Dutzende Kampfdrohnen aus Russland eingesetzt worden.
Als Vorsichtsmaßnahme wurde in mehreren Gebieten der Strom abgeschaltet, um einer möglichen Überlastung des Netzes vorzubeugen, falls Energieanlagen angegriffen werden sollten. Der Minister Herman Haluschtschenko berichtete auf Facebook von einem massiven Angriff auf das Energiesystem der Ukraine. Im Gebiet Wolyn wurde bereits ein weiterer Angriff auf die Netzinfrastruktur bestätigt.
Das russische Verteidigungsministerium hat die Attacke auf die Energieinfrastruktur bestätigt. Die geplanten Ziele hätten die ukrainische Rüstungsindustrie mit Strom versorgt, wurde zur Erklärung angegeben.
Kritik an Scholz: Angriff Putins Antwort auf Gespräche
Außenminister Andrij Sybiha warf Kremlchef Wladimir Putin in dem Zusammenhang Kriegsverbrechen vor. Die Drohnen und Marschflugkörper seien gegen Städte, Infrastruktur und schlafende Zivilisten gerichtet. Dies sei «Putins wahre Antwort an all diejenigen, die ihn jüngst angerufen oder besucht haben. Wir brauchen Frieden durch Stärke, kein Appeasement», schrieb er bei X.
Es wird angenommen, dass sich der Eintrag auch auf das Telefonat von Bundeskanzler Olaf Scholz mit Putin am Freitag bezieht. Während Scholz in dem ersten Gespräch der beiden seit fast zwei Jahren erneut einen Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine und Verhandlungen forderte, bestand der Kremlchef auf den bekannten Moskauer Vorbedingungen für Friedensgespräche. Dazu gehören Gebietsabtretungen der Ukraine an den großen Nachbarn sowie der Verzicht des Landes auf eine Nato-Mitgliedschaft.
Das Telefonat hatte bereits kurz nach Bekanntwerden Kritik hervorgerufen, auch in der Ukraine. «Der Anruf von Olaf öffnet meiner Meinung nach die Büchse der Pandora», sagte der ukrainische Präsident Selenskyj noch in seiner Abendbotschaft am Freitag. Scholz habe mit seinem Anruf Putins langgehegten Wunsch erfüllt, Russlands Isolation zu verringern und mit Gesprächen zu beginnen, die zu nichts führen werden, begründete er.
Ukraine unter Druck
Die ukrainischen Streitkräfte werden in den kommenden Tagen und Wochen vor großen Herausforderungen stehen: Die ukrainischen Soldaten im Osten des Landes am Rande des Donbass müssen weitere Gebietsverluste hinnehmen. Seit dem Fall der Festung Awdijiwka zu Beginn des Jahres konnten die Ukrainer die Front im Donbass nicht stabilisieren. Die russischen Truppen sind seither um etwa 40 Kilometer vorgerückt. Aktuell steht die strategisch wichtige Stadt Kurachowe kurz vor der Eroberung durch russische Truppen.
Die Russen erhöhen nach britischer Einschätzung den Druck auf die strategisch wichtige Stadt Kupjansk, indem sie im Norden vorrücken. Es gab möglicherweise bereits Versuche, von Nordosten aus in die Stadt einzudringen. Im Süden haben die Russen einen Frontbogen erweitert und den Fluss Oskil erreicht, wie das britische Verteidigungsministerium mitteilte. Dadurch werden die ukrainischen Versorgungslinien östlich des Flusses gestört. Das Gebiet wurde im Herbst 2022 im Zuge einer ukrainischen Gegenoffensive nach gut fünf Monaten Besatzung befreit.
Gegenoffensive in Kursk?
Eine Gegenoffensive Moskaus in der von Ukrainern besetzten westrussischen Region Kursk zeichnet sich ab. Es wurden bereits knapp 50.000 Soldaten zusammengezogen, darunter über 10.000 nordkoreanische Kämpfer. Das Ziel ist es, die Ukrainer aus dem Land zu vertreiben, die sich im Sommer bei einer überraschenden Gegenoffensive festsetzen konnten. Trotz hoher Verluste hat das russische Militär bisher Angriffe auf die ukrainischen Positionen durchgeführt.