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Generalinspekteur beklagt deutsche Realitätsverweigerung

Altöl in der Wasserversorgung eines deutschen Kriegsschiffes, ein Hackerangriff auf Handys von Soldaten. Nicht nur dem Verfassungsschutz fällt es schwer, hier an Zufälle zu glauben.

Sinan Selen ist einer von zwei Vizepräsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz. (Archivfoto)
Foto: Kay Nietfeld/dpa

Die Trennung zwischen innerer und äußerer Sicherheit in Deutschland ist aus Sicht des Generalinspekteurs der Bundeswehr ein «Einfallstor» für hybride russische Angriffe. Man müsse dringend überlegen, wie man in dieser Grauzone «koordiniert agieren kann», sagt General Carsten Breuer bei einer Sicherheitstagung, die das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) alljährlich zusammen mit der Allianz für Sicherheit in der Wirtschaft (ASW) ausrichtet. Denn anders als in Deutschland, wo es unterschiedliche Regeln und Zuständigkeiten für Friedenszeiten sowie für den Spannungs- und Verteidigungsfall gibt, sei Krieg für den russischen Präsidenten, Wladimir Putin, «ein Dauerzustand». 

Ein Lagebild sei daher erforderlich, in das auch Vorfälle einfließen, die auf den ersten Blick nicht in einem militärischen Zusammenhang stehen. Es sei sicher kein Zufall, wenn Handys von Bundeswehr-Soldaten, die Ukrainer ausbilden, gehackt würden.

Verfassungsschutz: Saboteure und Spione werden breiter rekrutiert

Laut dem Verfassungsschutz sind die Grenzen zwischen staatlichen, halbstaatlichen und privaten Akteuren, die im Auftrag oder im Sinne von Geheimdiensten fremder Mächte handeln, gleichzeitig verschwommen.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) warnt davor, dass deutsche Behörden und Unternehmen sich besser gegen Sabotage und Spionage rüsten müssen. Länder wie Russland und China verlassen sich nicht mehr nur auf staatliche Sicherheitsorgane, Staatsmedien und Diplomatie. Stattdessen nutzen sie auch staatliche Hochschulen oder Unternehmen und beauftragen vermehrt private Akteure für spezifische Aufgaben.

Pakete mit Brandsätzen

Der Verfassungsschutz verweist auf mehrere Beispiele für mutmaßliche Sabotage aus den vergangenen Monaten – dazu gehören Vorfälle auf deutschen Kriegsschiffen, bei denen die Ermittlungen noch laufen, sowie Pakete mit Brandsätzen, die verschickt wurden, und Brandanschläge auf ein Einrichtungshaus in Litauen und ein Einkaufszentrum in Polen.

Der BfV-Vizepräsident, Sinan Selen, spricht von fast täglichen Drohnenflügen über Militäranlagen und Unternehmen. Dabei gehe es nicht um «Spielzeugdrohnen», betont er. Selen erinnert an den Brand in einer Halle in Großbritannien, in der Starlink-Equipment für die Ukraine gelagert worden sei. 

Der stellvertretende BfV gibt zu, dass es im Einzelfall manchmal schwierig ist, eine Zuordnung zu einem ausländischen Nachrichtendienst vorzunehmen. Die Summe solcher Ereignisse sorgt jedoch dafür, dass auch ihm schwerfällt, an Zufälle zu glauben.

Prorussische Hacktivisten attackieren in einem Monat 110 Websites

Gemäß Verfassungsschutz hat die prorussische Hackergruppe im Februar insgesamt 110 Websites angegriffen, darunter auch Websites von Polizeibehörden und regionalen Verkehrsbetrieben. Die Gruppe hatte zuvor den Internetauftritt der Münchner Sicherheitskonferenz und des Konferenzhotels Bayerischer Hof vorübergehend lahmgelegt.

Wie vertrauenswürdig sind US-Waffensysteme?

Auf die Frage eines Industrievertreters, ob Waffenkäufe von US-Herstellern für die Bundeswehr angesichts des Kurswechsels in Washington noch sinnvoll seien, oder ob man dabei mit eingebauten «unerwünschten Funktionen» rechnen müsse, antwortete Breuer, Russland werde in vier bis sieben Jahren in der Lage sein, Nato-Gebiet militärisch anzugreifen. Deshalb sei es notwendig, jetzt auch Waffensysteme zu bestellen, die bereits entwickelt sind. 

Der ranghöchste Soldat der Bundeswehr ist gegen eine sofortige Wiedereinführung der Wehrpflicht. Er erklärt, dass dies kurzfristig die Verteidigung an der Nato-Ostflanke beeinträchtigen würde, wenn jetzt ein kompletter Jahrgang ausgebildet werden müsste.

Warnung vor der Vogel-Strauß-Methode 

Breuer betont die Notwendigkeit einer glaubwürdigen Abschreckung. Das Verdrängen der Realität sei «eine typisch deutsche Eigenschaft», analysiert der Generalinspekteur. In der aktuellen Lage sei es aber keine Option, den Kopf in den Sand zu stecken und darauf zu warten, «dass es vorbeigeht». 

Für ihn sei schon angesichts der aktuellen russischen Produktion an Panzern und Munition klar: «Putin wird mit dem Griff auf das ukrainische Territorium nicht aufhören». Auch ein Ende des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine werde nicht zu nachhaltigem Frieden auf dem europäischen Kontinent führen.

dpa