Wie wird sich Syrien nach dem Sturz von Machthaber Assad entwickeln? Werden die neuen Herrscher das Land einen und für den Schutz von Minderheiten sorgen? Die EU sieht eine historische Chance.
Schwierige Gespräche über die Zukunft Syriens
Nach dem Sturz des langjährigen syrischen Machthabers Baschar al-Assad sehen internationale Diplomaten Chancen für eine friedliche Entwicklung des gebeutelten Landes, aber auch Risiken. Bei einem Gipfeltreffen in Brüssel forderten die Regierungschefs der EU-Staaten die EU-Kommission und die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas auf, Optionen für potenzielle Maßnahmen zur Unterstützung Syriens zu erarbeiten.
UN-Generalsekretär António Guterres blickt jedoch zugleich mit Sorge auf die weitere Entwicklung des Landes: «Obwohl sich die Lage in Teilen Syriens stabilisiert hat, ist der Konflikt noch lange nicht vorbei», warnte er in New York.
Baerbock spricht in Ankara über Syrien-Krise
Die Bundesaußenministerin Annalena Baerbock reist heute in die Türkei, um Gespräche über die Situation in Syrien zu führen. In Ankara ist ein Treffen der Grünen-Politikerin mit dem Außenminister Hakan Fidan geplant. Baerbock wird voraussichtlich die Türkei auffordern, zur Stabilität in Syrien beizutragen. Seit dem Umsturz gilt die Türkei als einer der wichtigsten ausländischen Akteure in Syrien. Sie hat Beziehungen zur islamistischen Gruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS), unter deren Führung eine Rebellenallianz den Machthaber Assad am 8. Dezember gestürzt hatte.
Derzeit ist die HTS immer noch auf der Terrorliste der Vereinten Nationen und unterliegt EU-Sanktionen. Die Staats- und Regierungschefs der EU haben in ihrer Gipfelerklärung keine Stellungnahme dazu abgegeben, ob sie sich eine schnelle Aufhebung der Sanktionen gegen die Islamistengruppe vorstellen können. Sie haben die neuen Machthaber aufgefordert, die Achtung der Menschenrechte und den Schutz von Angehörigen religiöser und ethnischer Minderheiten sicherzustellen.
Syrer in Damaskus demonstrieren für Frauenrechte
Kritiker warnen bereits, dass die EU einen enormen Imageschaden riskiert, wenn sich in einigen Monaten herausstellen sollte, dass die neuen Machthaber nicht so gemäßigt sind, wie sie sich derzeit geben. In der syrischen Hauptstadt Damaskus demonstrierten Hunderte Menschen für Demokratie, Frauenrechte und einen säkularen Staat. Aussagen des HTS-Sprechers Obaida Arnaut im libanesischen Fernsehen zur Rolle der Frauen hatten für Kritik gesorgt. Arnaut sagte unter anderem, Frauen seien wegen ihrer «biologischen Natur» für das Amt einer Verteidigungsministerin oder für Rollen in der Justiz ungeeignet.
Christen, Alawiten und andere Minderheiten haben Angst vor möglichen Repressionen nach dem Sturz von Assad. Der HTS-Anführer Ahmad al-Scharaa, der kürzlich noch unter seinem Kampfnamen Mohammed al-Dschulani bekannt war, zeigte sich zuletzt gemäßigt und versprach ein Syrien für alle. Baerbock wird während ihres Besuchs in Ankara über den Schutz von Minderheiten in Syrien sprechen.
Türkei geht gegen syrische Kurdenmiliz vor
Vor ihrer Reise in die Türkei hatte Baerbock im Bundestag auch die Rolle der Kurden beim Kampf gegen das gestürzte Assad-Regime gewürdigt. Der Türkei wird vorgeworfen, das Machtvakuum in Syrien nutzen zu wollen, um die unter Verwaltung kurdischer Milizen stehenden Gebiete in Nordsyrien zu zerschlagen. Von der Türkei unterstützte Rebellen waren in den vergangenen Wochen gegen die syrische Kurdenmiliz YPG vorgerückt. Ankara sieht die YPG als Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und damit als Terrororganisation.
Die Kurden fürchten seit Tagen eine Großoffensive gegen die syrisch-kurdische Grenzstadt Kobane. Seit den Angriffen der protürkischen Milizen wurden mindestens 100.000 Menschen im Norden vertrieben. UN-Chef Guterres mahnte zur Einstellung der Kämpfe im Norden. Viele EU-Mitgliedstaaten hoffen grundsätzlich darauf, dass Syrien unter einer neuen Führung wieder sicher wird und die syrischen Flüchtlinge dann freiwillig in ihre Heimat zurückkehren oder anderweitig abgeschoben werden können.
EU bereitet mögliche Unterstützung für Syrien vor
Die EU-Kommission und die EU-Außenbeauftragte Kallas sollen Optionen für Maßnahmen zur Unterstützung Syriens erarbeiten. Dazu könnten die Aufhebung der Wirtschaftssanktionen und Wiederaufbauhilfen für die durch den langjährigen Bürgerkrieg verursachten Zerstörungen gehören. Bisher wurde nur humanitäre Hilfe für die Zivilgesellschaft geleistet, da die EU die Gewaltherrschaft von Assad nicht unterstützen wollte.