Die Ermordung einer nationalistischen Politikerin, die für antirussische Aussagen bekannt ist, erschüttert die Ukraine. Laut Präsident Selenskyj wird der Täter gesucht. Führt eine Spur nach Moskau?
Selenskyj: Ermittlungen nach Mord an Politikerin laufen
Nach dem tödlichen Schuss auf die ultranationalistische Politikerin Iryna Farion im Westen der Ukraine schließt die Führung in Kiew auch eine russische Spur nicht aus. «Alle Versionen werden untersucht, einschließlich jener, die nach Russland führt», sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj.
Farion, die aufgrund ihrer russenfeindlichen Äußerungen auch mit der ukrainischen Justiz Probleme hatte, wurde am Freitagabend vor ihrem Wohnhaus in Lwiw (Lemberg) durch einen Kopfschuss verletzt. Die 60-Jährige verstarb kurz darauf im Krankenhaus, wie die Behörden bestätigten. Über den möglichen Täter lagen zunächst keine Informationen vor.
Die Aufnahmen aller verfügbaren Überwachungskameras würden ausgewertet, Zeugen befragt und mehrere Stadtteile durchkämmt, sagte Selenskyj. Kräfte der Nationalpolizei und der Geheimdienste seien im Einsatz, um den Täter aufzuspüren. Innenminister Ihor Klymenko, der ebenfalls eine russische Spur nicht ausgeschlossen hatte, die Chefs der Polizei und des Geheimdienstes sowie Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft seien in Lwiw, um die Ermittlungen zu kontrollieren. Selenskyj sprach den Angehörigen Farions, die zeitweilig auch Parlamentsabgeordnete der rechtsnationalistischen Partei Swoboda in der Obersten Rada in Kiew gewesen war, sein Beileid aus.
Farion bekämpfte russische Sprache in der Ukraine
Die Philologin Farion hatte vor allem die in der Ukraine verbreitete russische Sprache mit radikalen Aussagen bekämpft. Ihre Partei Swoboda vermutet daher eine russische Spur in dem Mordfall. Innenminister Klymenko sieht einen Zusammenhang zwischen dem Attentat und Farions gesellschaftlicher Tätigkeit. «Die grundlegenden Versionen, die derzeit in Betracht gezogen werden, sind persönliche Feindseligkeit, soziale und politische Aktivitäten von Frau Farion. Wir schließen nicht aus, dass es sich um einen Auftragsmord handelt», schrieb der Minister bei Telegram.
Mögliche russische Spur und Genugtuung in Moskau
Farion hatte aufgrund von Aussagen, die sich gegen die russischsprachige Bevölkerung richteten, auch Probleme mit der ukrainischen Justiz. Sie wurde nach Protesten von Studierenden vorübergehend von ihrer Stelle an der Universität entlassen, an der sie Ukrainisch unterrichtete. Die Professorin hatte unter anderem kritisiert, dass viele ukrainische Soldaten an der Front weiterhin Russisch sprechen. Um gegen den russischen Angriffskrieg zu kämpfen, kaufte sie nach eigenen Angaben auch Drohnen.
Farion stand vielfach in der Kritik, die ukrainische Gesellschaft gespalten zu haben. Die russische staatliche Propaganda nahm die Nachricht vom Tod der Politikerin indes mit Genugtuung auf. «Iryna Farion, die von der „vollständigen Beseitigung“ der russischsprachigen Bevölkerung träumte, ist beseitigt worden. Gott regelt die Sache dort auch ohne uns», schrieb die Chefredakteurin des russischen Staatsfernsehsenders RT, Margarita Simonjan.
Bürgerrechtler sehen russische Hochschulen unter Druck
Die Moskauer Führung unterdrückt weiterhin jegliche Kritik wegen des Ukraine-Krieges. Bürgerrechtsaktivisten zufolge betrifft dies auch die Hochschulen. Sie sind der Meinung, dass Universitäten und Hochschulen in Russland aufgrund der Repression einem stärkeren politischen Druck ausgesetzt sind.
Die Organisation Molnija, die sich für die Rechte von Studierenden einsetzt, verzeichnet seit Kriegsbeginn 2022 deutlich mehr Fälle von Zwangsexmatrikulationen. Wegen Kritik am Krieg oder aus anderen politischen Gründen würden Studenten und Studentinnen von den Hochschulen ausgeschlossen. Eine Studie zur Hochschulfreiheit in Russland listet für 2023 mehrere Fälle auf, bei denen auch Dozenten aus politischen Gründen entlassen oder bestraft wurden. Es gibt jedoch keine genauen Zahlen zur Entwicklung der Hochschulverweise aus politischen Gründen.
In Russland lernen nach offiziellen Angaben etwa 4,3 Millionen Studierende an rund 1.000 Unis und Hochschulen. Die Hochschulen seien einer der empfindlichsten Bereiche der Gesellschaft, sagte die Journalistin Wera Ryklina vom Medienprojekt «Strana i mir» bei einer Veranstaltung der Deutschen Sacharow-Gesellschaft. Russland richte sich auf einen langanhaltenden Konflikt mit dem Westen ein. An der Hochschulpolitik lasse sich ablesen, welche Gesellschaft der russische Staat unter Kremlchef Wladimir Putin anstrebe.
Militarisiertes Studium und Verweise bei Demo-Teilnahme
Zu diesem Bild gehörten eine Militarisierung und ideologische Indoktrinierung, erläuterte der exilierte russische Soziologe Dmitri Dubrowski, ein Autor der Studie zur Hochschulfreiheit für das Forschungszentrum Cisrus in den USA. Die Militärausbildung sei zurückgekehrt, zur patriotischen Erziehung würden Fächer wie «Grundlagen der russischen Staatlichkeit» oder «Religionen Russlands» eingeführt. Geheimdienstoffiziere rückten in Uni-Verwaltungen ein. Linientreue Studenten oder Dozenten durchforsteten die Konten ihrer Kommilitonen oder Kollegen in sozialen Netzwerken auf abweichende Meinungen, sagte Dubrowski.
Studierende werden laut der Organisation Molnija oft von der Hochschule ausgeschlossen, wenn sie an nicht genehmigten Demonstrationen teilnehmen. Dies wird mit einem Verstoß gegen die Verhaltensregeln der Hochschule begründet. Besonders gefährdet sind Studierende, die sich sozial oder gewerkschaftlich engagieren oder journalistisch arbeiten. Demonstrationen werden in Russland weiterhin mit Verweis auf den Schutz vor Corona untersagt.
Molnija erklärt, dass in den Jahren vor dem Krieg nur wenige Fälle von Hochschulverweisen aus politischen Gründen bekannt waren. In den Kriegsjahren 2022 und 2023 waren es jedoch mehrere Dutzend. Entlassene Studenten sind weitgehend schutzlos, sagte eine Juristin von Molnija anonym bei der Sacharow-Gesellschaft. Sie haben keine Arbeit, staatliche Stellen verweigern den Kontakt mit ihnen, und sie sind von der Einberufung zum Wehrdienst bedroht. Tausende kritische Studenten und Dozenten haben das Land wegen des Krieges verlassen.