Der ukrainische Präsident Selenskyj beugt sich dem massiven Druck und stellt die Unabhängigkeit der Anti-Korruptionsbehörden wieder her. Doch ganz beruhigt hat sich die Lage noch nicht.
Selenskyj kündigt Lügendetektortests für Staatsdiener an
Nach scharfer Kritik der EU und massiven Protesten Tausender Ukrainer hat Präsident Wolodymyr Selenskyj in Kiew einen Gesetzentwurf zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Anti-Korruptionsbehörden vorgelegt. Um einen russischen Einfluss in den staatlichen Stellen auszuschließen, sollen aber alle Mitarbeiter mit Zugang zu Staatsgeheimnissen Lügendetektortests unterzogen werden, kündigte Selenskyj in seiner abendlichen Videobotschaft an. «Und das müssen regelmäßige Kontrollen sein», sagte er.
Er hatte zuvor einen neuen Gesetzentwurf zur Arbeit der Anti-Korruptionsbehörden in die Oberste Rada eingebracht. Dieser sieht die Durchführung von Lügendetektortests innerhalb von sechs Monaten vor. Trotzdem gab es in Kiew und anderen Städten des Landes erneut Proteste gegen das Gesetz, das Präsident Selenskyj trotz Kritik in einem Eilverfahren unterzeichnet hatte und mit dem die Anti-Korruptionskämpfer der Generalstaatsanwaltschaft unterstellt werden sollen.
Demonstrationen am dritten Tag infolge
Die Demonstranten verlangten die Verabschiedung des neuen Gesetzes, das den Anti-Korruptionskämpfern ihre bisherigen Vollmachten zurückgibt. In Kiew versammelten sich die Protestierenden zum dritten Tag in Folge in der Nähe des Präsidentensitzes, wie ein Reporter der Deutschen Presse-Agentur vor Ort berichtete. Die Anzahl der Teilnehmer blieb jedoch mit einigen Hundert hinter den Zahlen des Vortags zurück.
«Der Gesetzentwurf stellt alle prozessualen Vollmachten wieder her und garantiert die Unabhängigkeit vom Nationalen Antikorruptionsbüro (NABU) und der Spezialisierten Antikorruptionsstaatsanwaltschaft (SAP)», schrieben die beiden Behörden nach Bekanntwerden von Selenskyj neuem Gesetzestextes auf ihren Telegramkanälen. NABU und SAP waren demnach an der Ausarbeitung des Gesetzentwurfs beteiligt.
Abstimmung über korrigiertes Gesetz bisher ohne Termin
Der Zeitpunkt der Abstimmung in der Rada war zunächst unklar. Parlamentspräsident Ruslan Stefantschuk versprach auf Facebook, das Dokument in der nächsten Sitzung zur Abstimmung zu bringen. Nach Angaben von Abgeordneten ist die Oberste Rada jedoch bis Mitte August in den Sommerferien.
Zuvor viel Unverständnis für Gesetz
Die Gesetzesänderung am Dienstag löste nicht nur Proteste in verschiedenen Städten aus. Auch in der EU stieß die Entscheidung auf Unverständnis. Der NABU und SAP wurden 2015 mit westlicher Hilfe gegründet, um die allgegenwärtige Korruption vor allem bei hochrangigen Politikern und in der Verwaltung zu bekämpfen. Trotz aller Reformen gilt das Land, das in die EU strebt, laut der Nichtregierungsorganisation Transparency International weiterhin als eines der korruptesten Länder Europas.
Kritiker warfen Selenskyj vor, autoritäre Tendenzen zu haben, indem er versuchte, die lange Zeit unabhängigen Behörden zu unterwerfen. Dass er jetzt gescheitert ist, wird von Kommentatoren als eine schwere politische Niederlage angesehen, die den Präsidenten geschwächt zurücklässt.
Selenskyj setzt auf Unterstützung von Kanzler Merz
Selenskyj informierte nach eigenen Angaben auch Kanzler Friedrich Merz (CDU) über die jetzigen Änderungen. Er habe «Deutschland eingeladen, sich an der Begutachtung des Gesetzentwurfs durch Experten zu beteiligen. Friedrich hat mir seine Bereitschaft zur Unterstützung zugesichert.» Geplant sei auch eine Einbeziehung anderer europäischer Partner wie Großbritannien und die EU.
«Wir waren uns alle einig, dass es keine Einmischung oder Einflussnahme Russlands auf die Funktionsweise unserer Antikorruptionsinfrastruktur geben darf», teilte Selenskyj nach einem Treffen mit den Behördenvertretern mit. «Jeder, der Zugang zu Staatsgeheimnissen hat – und das gilt nicht nur für das NABU und die SAP, sondern auch für das Staatliche Büro für Ermittlungen, unsere nationale Polizei – muss sich einem Lügendetektortest unterziehen. Und das müssen regelmäßige Kontrollen sein», sagte Selenskyj.
Bisher wurden solche Tests durchgeführt, jedoch nicht in der geplanten Frequenz. Am Abend teilte das NABU jedoch erleichtert mit, dass gemäß dem Gesetzentwurf nicht der Geheimdienst SBU, sondern eine interne Verwaltungskontrollstelle die Tests durchführen wird. Der veröffentlichte Text auf der Rada-Seite erwähnt jedoch bei der ersten Überprüfung nach Inkrafttreten des Gesetzes ausdrücklich den SBU. Alle weiteren Überprüfungen sollen mindestens alle zwei Jahre von internen Kontrollorganen durchgeführt werden.
Selenskyj kündigt Antwort auf russische Angriffe an
Der ukrainische Präsident verurteilte in seiner Abendbotschaft erneut die fortlaufenden russischen Angriffe – trotz der direkten Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau am Mittwoch in Istanbul. Russland zeigt mit den Attacken – wie auf den Markt in Odessa und auf die Stadt Charkiw, wo es mehr als 40 Verletzte gab -, dass es kein Interesse an einem Frieden hat. Auch viele andere Städte waren erneut Ziele russischer Drohnen- und Bombenangriffe, es gab Tote und Verletzte.
«Natürlich werden wir Russland auf all das antworten», kündigte Selenskyj an. Die Ukraine greift in ihrem Abwehrkampf gegen den seit mehr als drei Jahren andauernden Moskauer Angriffskrieg immer wieder auch russisches Staatsgebiet an. Bei einem Drohnenangriff auf das russische Gebiet Kursk starb eine Frau, wie Behörden dort am Abend mitteilten. Insgesamt stehen die Zahlen der Opfer und die Schäden in keinem Verhältnis zu den massiven Zerstörungen, vielen Toten und Verletzten durch die russischen Angriffe in der Ukraine.