Das hat es seit fast 20 Jahren nicht mehr gegeben: Der Kanzler fordert den Bundestag auf, ihm das Vertrauen auszusprechen – um das Gegenteil zu erreichen.
So läuft die Abstimmung über die Vertrauensfrage ab
Es ist ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Neuwahl des Bundestags am 23. Februar: Bundeskanzler Olaf Scholz wird heute die Abgeordneten im Parlament auffordern, ihm das Vertrauen auszusprechen, unter Berufung auf Artikel 68 des Grundgesetzes – um das Gegenteil zu erreichen. Sollte er wie geplant keine Mehrheit im Bundestag erhalten, wird er unmittelbar nach der Sitzung zum Schloss Bellevue fahren und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vorschlagen, den Bundestag aufzulösen. Dann fehlt nur noch dessen Zustimmung.
Warum macht Scholz das?
Die einzige Möglichkeit für ihn, selbst eine vorgezogene Bundestagswahl herbeizuführen, ist die Vertrauensfrage. Bereits am 6. November hatte er diesen Schritt unmittelbar nach dem Rausschmiss von FDP-Finanzminister Christian Lindner und dem Aus seiner Ampel-Koalition angekündigt. Seitdem führt er eine von SPD und Grünen getragene Regierung, die im Bundestag keine Mehrheit mehr hat. Ohne Unterstützung aus der Opposition kann sie nichts mehr durchsetzen.
Worüber stimmt der Bundestag ab?
Scholz hat die Vertrauensfrage vergangenen Mittwoch bei Bundestagspräsidentin Bärbel Bas fristgerecht mehr als 48 Stunden vor der Abstimmung beantragt. Das von ihm persönlich unterzeichnete Schreiben besteht nur aus zwei Sätzen: «Sehr geehrte Frau Bundestagspräsidentin, gemäß Artikel 68 des Grundgesetzes stelle ich den Antrag, mir das Vertrauen auszusprechen. Ich beabsichtige, vor der Abstimmung am Montag, dem 16. Dezember 2024, hierzu eine Erklärung abzugeben.»
Wie läuft die Bundestagssitzung ab?
Ab 11 Uhr treffen sich zunächst die Fraktionen separat im Bundestag, um sich auf die Abstimmung vorzubereiten. Um 13 Uhr beginnt die Plenarsitzung. Scholz wird seine Beweggründe für die Vertrauensfrage in einer etwa 25-minütigen Rede erläutern. Es folgt eine zweistündige Aussprache, an der Abgeordnete aller acht im Bundestag vertretenen Parteien teilnehmen werden. Danach wird namentlich abgestimmt.
Was bedeutet «namentliche Abstimmung»?
Das bedeutet, dass das Abstimmungsverhalten jedes einzelnen Abgeordneten etwa eine Stunde nach der mündlichen Bekanntgabe des Ergebnisses durch Bundestagspräsidentin Bas bekannt gegeben wird. Dann wird sich zeigen, ob es Abweichler gibt, also Abgeordnete, die gegen die Linie ihrer eigenen Fraktion oder Gruppe gestimmt haben.
Ist sicher, dass Scholz keine Mehrheit bekommt?
Das gilt als sicher. Dem Bundestag gehören 733 Abgeordnete an. Um das Vertrauen des Parlaments zu bekommen, müsste Scholz 367 Stimmen erhalten – die absolute Mehrheit aller Parlamentarier, auch «Kanzlermehrheit» genannt. Die SPD-Fraktion mit ihren 207 Abgeordneten will dem Kanzler zwar das Vertrauen aussprechen. Die Grünen-Fraktionsspitze hat ihren 117 Parlamentariern aber eine Enthaltung empfohlen.
Was steckt hinter dieser Entscheidung?
Die Grünen wollen sicherstellen, dass die AfD die Neuwahlpläne der Koalition nicht vereitelt. Wenn die Grünen für Scholz stimmen würden, hätten sie zusammen bereits 324 Stimmen, also nur 43 weniger als die Kanzlermehrheit. Die AfD mit ihren 76 Abgeordneten hätte Scholz rein rechnerisch zur Mehrheit verhelfen können. Dies ist jedoch aufgrund der Entscheidung der Grünen nun ausgeschlossen. Bisher hatte jedoch nur ein AfD-Abgeordneter angekündigt, für Scholz stimmen zu wollen.
Was ist mit den anderen Oppositionsfraktionen?
Es ist wahrscheinlich, dass sie geschlossen oder nahezu geschlossen gegen Scholz stimmen. Es könnten zwar immer einzelne Abweichler vorhanden sein. Bisher hat sich jedoch noch niemand geäußert. In Wahlkampfzeiten wäre es auch eher ungewöhnlich, in einer so wichtigen Abstimmung für die politische Konkurrenz zu stimmen.
Mal rein theoretisch: Was wäre, wenn Scholz eine Mehrheit bekommt?
Derzeit denkt niemand darüber nach. Scholz könnte theoretisch mit seiner Minderheitsregierung einfach bis zum geplanten Wahltermin am 28. September 2025 weitermachen. Oder er könnte die Vertrauensfrage erneut stellen, in der Hoffnung auf eine andere Abstimmung.
Wie geht es weiter, wenn Scholz wie erwartet keine Mehrheit bekommt?
Dann ist der Bundespräsident an der Reihe. Scholz wird Steinmeier vorschlagen, den Bundestag aufzulösen, wozu er dann drei Wochen Zeit hat, also bis zum 6. Januar. Wenn der Bundespräsident sich dafür entscheidet, was als sicher gilt, muss die Neuwahl innerhalb von 60 Tagen stattfinden. SPD, Grüne und die Union als größte Oppositionsfraktion haben sich auf den 23. Februar als Wahltermin geeinigt. Der Bundespräsident hat bereits signalisiert, dass er diesen Termin für realistisch hält.
Ist Scholz noch voll handlungsfähig, auch wenn er das Vertrauen des Parlaments nicht mehr hat?
Der Kanzler und seine Regierung bleiben im Amt – und zwar im vollen Umfang und nicht nur geschäftsführend. Erst mit der Konstituierung des neuen Bundestags höchstens 30 Tage nach der Wahl endet laut Artikel 69 Grundgesetz das Amt des Bundeskanzlers und seiner Minister. Wenn zu diesem Zeitpunkt die Verhandlungen über eine neue Regierungskoalition noch nicht abgeschlossen sind, kann der Bundespräsident die alte Regierung bitten, die Amtsgeschäfte bis zur Vereidigung der neuen weiterzuführen.
Ist der Bundestag nach der Auflösung noch handlungsfähig?
Ja, er bleibt mit all seinen Rechten und Pflichten bestehen bis zum Zusammentritt des neuen Bundestags. Das Parlament kann jederzeit erneut zusammentreten, Gesetze verabschieden und seine Gremien wie Untersuchungsausschüsse bis zum Ende der Wahlperiode fortbestehen lassen. Das Ende wird mit dem ersten Zusammentreten des neu gewählten Bundestags erreicht.
Ist es denn realistisch, dass der Bundestag noch etwas zustande bringt?
Scholz wirbt für die Verabschiedung mehrerer Gesetzesvorhaben mit finanziellen Entlastungen noch vor Weihnachten. «Ein Schulterschluss der demokratischen Mitte in diesen wichtigen Fragen wäre ein starkes Zeichen», sagte der SPD-Politiker nach Einreichung seines Antrags auf Vertrauensfrage. Er appelliere an die Opposition: «Lassen Sie uns gemeinsam handeln im Interesse der Bürgerinnen und Bürger.»
Macht die Opposition da mit?
Der Großteil wird gebremst, aber einige Vorhaben könnten noch realisiert werden: Union und FDP sind bereit zuzustimmen, um das Verfassungsgericht widerstandsfähiger gegen Einflussnahme und Blockade durch Verfassungsfeinde zu machen. Die FDP würde zumindest einem Gesetz zur Kompensation der kalten Progression bei der Einkommensteuer und für mehr Kindergeld zustimmen – jedoch könnte es im Bundesrat an den unionsgeführten Ländern scheitern. Auch ein Gesetz zur unterirdischen Speicherung klimaschädlichen Kohlendioxids (CO2) könnte noch verabschiedet werden – hier haben Union und FDP beide Zustimmung signalisiert.