Dass eine Partei ihren Amtsinhaber dreieinhalb Monate vor der Wahl aus dem Rennen jagt, ist selbst für US-Verhältnisse ein unglaublicher Akt. Zum Schluss wurde der Kampf zum unwürdigen Schauspiel.
Super-GAU im US-Wahljahr: Bidens dramatischer Rückzug
Joe Biden entscheidet sich für einen ungewöhnlichen Abgang. Es gibt keine formelle Ansprache im Weißen Haus, keinen großen Auftritt, sondern lediglich eine schlichte schriftliche Erklärung, die der US-Präsident gleichzeitig über verschiedene soziale Medien verbreitet, während er selbst in Corona-Isolation in seinem Privathaus in Delaware sitzt.
«Liebe Mitbürger», schreibt er da – und kommt erst vier Absätze später zum Punkt: «Obwohl es meine Absicht war, mich um eine Wiederwahl zu bemühen, glaube ich, dass es im besten Interesse meiner Partei und des Landes ist, wenn ich mich zurückziehe und mich für den Rest meiner Amtszeit ausschließlich auf die Erfüllung meiner Pflichten als Präsident konzentriere.»
In den nächsten Tagen werde ich der Nation nähere Informationen zu meiner Entscheidung geben“, fügt der 81-Jährige hinzu. In einem weiteren Social-Media-Beitrag spricht er sich dafür aus, dass seine Vize Kamala Harris an seine Stelle aufrücken und als Präsidentschaftskandidatin der Demokraten bei der Wahl im November antreten solle. Dann herrscht wieder Stille.
Chaos – und eine Chance
Der dramatische Schritt ist ähnlich wie der Super-GAU in einem US-Wahljahr, das bereits außergewöhnlich ist – und in dem so viel wie nie zuvor auf dem Spiel steht.
Ein US-Präsidentschaftsanwärter, der so kurz vor der Wahl aussteigt, ist nach amerikanischen Medienberichten noch nie vorgekommen. Und dass eine Partei ihren eigenen Amtsinhaber im Weißen Haus etwa dreieinhalb Monate vor der Wahl öffentlich ausscheidet, ist selbst für US-Verhältnisse ein unglaublicher Akt.
Bidens Demokraten und dem Land stehen nun turbulente Wochen bevor. Für die Partei ist es jedoch auch eine Gelegenheit: Endlich eine mühsame und schmerzhafte Diskussion hinter sich zu lassen, um der bisher wenig begeisterten Basis neuen Enthusiasmus zu verleihen und kurz vor Schluss doch noch Schwung in den eigenen Wahlkampf zu bringen.
Die Euphorie für Biden kam im bisherigen Wahlkampf bei den Demokraten nie auf. Von Anfang an gab es in der Partei Bedenken wegen seines Alters. Es fehlte jedoch an Alternativen. Die Demokraten versammelten sich eher pflichtschuldig hinter dem Amtsinhaber. Ihre Sorgen, ob er mit über 80 Jahren der richtige Mann für vier weitere Jahre in einem der härtesten Jobs der Welt ist, äußerten sie lange Zeit nur hinter vorgehaltener Hand.
Ein unwürdiges Schauspiel zum Schluss
Bidens desaströser Auftritt im TV-Duell gegen den republikanischen Präsidentschaftsanwärter Donald Trump Ende Juni markierte eine entscheidende Wende: Angesichts seiner katastrophalen Leistung vor Millionen von Zuschauern konnten viele in der Partei nicht länger schweigen. Es kam zu einem öffentlichen Aufstand. Mehrere Dutzend Demokraten forderten ihren Parteikollegen öffentlich auf, sich aus dem Rennen zurückzuziehen.
Ein entschlossener Biden kämpfte dreieinhalb quälende Wochen lang hartnäckig gegen einen vorzeitigen Rückzug an und betonte, dass nur Gott ihn dazu bringen könne, aus dem Rennen auszusteigen. Während seiner verzweifelten Bemühungen, die Revolte abzuwehren, unterliefen ihm weitere peinliche Fehler, Aussetzer, Patzer – einer schlimmer als der andere.
Und jeden Tag, an dem Biden weiterhin gegen das Unvermeidliche kämpfte, fühlten sich mehr Demokraten verpflichtet, öffentlich Stellung gegen ihn zu beziehen und dabei auch schmerzhafte Einblicke in seinen Zustand nach außen zu tragen: zum Beispiel, dass er einige von ihnen bei Treffen zuletzt nicht mehr erkannt habe. Sein politischer Überlebenskampf wurde zu einem unwürdigen Schauspiel. Biden selbst ist daran auch nicht unschuldig.
Ein angekratztes politisches Vermächtnis
Es ist bedauerlich, dass Bidens lange politische Laufbahn auf diese Weise endet. Er hätte als der Präsident in die Geschichte eingehen können, der Trump aus dem Weißen Haus vertrieb und das Land stabilisierte, der die USA aus der Coronakrise führte, die Wirtschaft wieder ankurbelte, der beispiellose Investitionen in Klimaschutz und Infrastruktur anstieß. Doch sein unrühmlicher Abgang fügte seinem politischen Vermächtnis dauerhaften Schaden zu. Nun wird er auch als einer in die Geschichte eingehen, der am Ende schwer strauchelte und dennoch nicht loslassen wollte. Aus Stolz? Aus Eitelkeit?
Erst im dritten Anlauf gelang es Biden, als ältester US-Präsident aller Zeiten ins Weiße Haus einzuziehen. Möglicherweise war es aufgrund der Schwierigkeiten, die er hatte, dorthin zu gelangen, schwerer für ihn loszulassen. Der Demokrat betont, dass er damals nur aus Verantwortungsbewusstsein beschlossen habe, sich zur Wiederwahl zu stellen. Bis zum Schluss behauptete er, dass es im ganzen Land niemanden gebe, der besser für den Job geeignet sei – und nur er könne Trump noch einmal besiegen.
Das erwies sich als überheblich. Als Amtsinhaber mit einer sehr beeindruckenden Bilanz hätte er eigentlich leichtes Spiel haben sollen gegen einen inzwischen verurteilten Straftäter, der vor vier Jahren versucht hatte, den Wahlausgang zu sabotieren und seine Anhänger zu einer gewaltsamen Attacke auf das US-Kapitol aufgehetzt hatte. Doch über Monate hinweg lag Trump in den Umfragen vor ihm. BIdens äußerer Zustand trübte schon lange seine inhaltlichen Erfolge.
Die Notlösung
Es ist hauptsächlich auch Biden selbst anzulasten, dass die Partei keinen alternativen Kandidaten bereit hatte. Im Jahr 2020 trat er als Übergangskandidat an, um Trump zu schlagen und dann an die nächste Generation weiterzugeben.
Er behielt jedoch die Macht für sich und vernachlässigte es, gezielt einen Nachfolger aufzubauen.
Ja, seine Stellvertreterin Harris blieb selbst hinter den großen Erwartungen und Hoffnungen an sie zurück. Sie war in vergangenen dreieinhalb Jahren unsichtbar, wirkte teils unsouverän, unauthentisch, leistete sich selbst Patzer. Biden übertrug ihr aber auch unlösbare Aufgaben, wie die «Eindämmmung von Fluchtursachen». Erst zuletzt konnte sie beim Thema Abtreibung etwas an Profil gewinnen.
Trotz ihrer bisherigen Schwäche schauen die Demokraten nun vor allem auf Harris als Biden-Nachfolgerin und sehen großzügig über ihre Lage hinweg, vor allem aus pragmatischen Gründen. Es wäre schwer, sie zu übergehen, da sie Bidens Vize ist und die erste Frau sowie die erste Schwarze in diesem Amt. Außerdem genießt sie nationale Bekanntheit und könnte auf den Wahlkampfapparat sowie auf gesammelte Spenden der bisherigen Biden-Harris-Kampagne zurückgreifen. Ob die Partei Bidens Vorschlag folgt und sie als Spitzenkandidatin in die Wahl schickt, bleibt abzuwarten.
Ob sie eine Möglichkeit hat, Trump zu besiegen, erst recht.