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Syrien vor ungewisser Zukunft nach Assads Sturz

UN-Sondergesandter mahnt zum Dialog und zur Vorbereitung einer Übergangsregierung, während Rebellen Damaskus erobern.

Russland hat Syriens gestürzten Diktator Assad Asyl gewährt. (Archivbild)
Foto: Valery Sharifulin/Pool Sputnik Kremlin/AP/dpa

Nach dem plötzlichen Sturz des syrischen Machthabers Baschar al-Assad steht das Land vor einer ungewissen Zukunft. Die Flucht Assads und seiner Familie nach Russland bietet die Möglichkeit eines Neuanfangs nach Jahrzehnten der Diktatur und fast 14 Jahren Bürgerkrieg mit Hunderttausenden Toten und Millionen Vertriebenen. Es hängt viel davon ab, ob sich die verschiedenen Rebellengruppen auf eine Machtverteilung einigen können – oder ob ein Machtvakuum zu neuer Gewalt führt und Syrien mit seinen ethnischen und religiösen Minderheiten im Chaos versinkt. Die Zeit nach Assads Sturz könnte neue Konflikte in der Region auslösen.

UN-Sicherheitsrat berät über Syrien

Geir Pedersen, der Sondergesandte der Vereinten Nationen für Syrien, mahnte, «Blutvergießen zu vermeiden». Er rief zum Dialog und zur Vorbereitung einer Übergangsregierung in dem Land auf, in dem bewaffnete Kräfte und ausländische Mächte seit langem um Einfluss ringen. Der UN-Sicherheitsrat in New York will auf Antrag Russlands heute hinter verschlossenen Türen über die Lage in Syrien beraten. Die Beratungen sollen am Abend deutscher Zeit stattfinden, wie die Deutsche Presse-Agentur aus Diplomatenkreisen erfuhr.

Russland gewährt Assad Asyl

Rebellen unter der Führung der islamistischen Gruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS) hatten in der Nacht zum Sonntag die Kontrolle über die syrische Hauptstadt Damaskus übernommen und damit das Ende der mehr als zwei Jahrzehnte andauernden Herrschaft Assads eingeläutet. Seit Beginn der Großoffensive der Rebellen starben nach Angaben von Aktivisten 910 Menschen. Darunter seien 138 Zivilisten, auch mehrere Kinder, meldete die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Russland gewährte derweil Assad und seiner Familie laut Kreml-Angaben aus humanitären Gründen Asyl.

Gemischte Reaktionen in der Region

«Wir sehen eine große Veränderung in der Region. Die Türkei ist stärker geworden, Russland ist schwächer geworden, der Iran ist schwach geworden», zitierte das «Wall Street Journal» einen syrischen Oppositionspolitiker. «Aber es sind die Syrer, die jetzt eine große Rolle spielen werden, nicht wie früher», sagte er. 

Die Türkei hat die internationale Gemeinschaft aufgefordert, einen geordneten Übergang in Syrien zu unterstützen. Laut Charles Lister, Direktor des Syrien-Programms am Middle East Institute, trägt Ankara eine wichtige Verantwortung dafür, dass dieser Prozess zu mehr Stabilität und zur Rückkehr der Flüchtlinge führt. Es sei entscheidend, ein neues Syrien zu schaffen und einen neuen Bürgerkrieg zu verhindern.

Syrien müsse sicher und stabil bleiben, zudem müssten Konflikte vermieden werden, die «zu Chaos führen», sagte Jordaniens König Abullah II nach Angaben des Hofes. Er respektiere den «Willen und die Entscheidungen des syrischen Volks». In Jordanien, das an Syrien grenzt, leben viele syrische Flüchtlinge. Ägyptens Außenministerium forderte einen umfassenden politischen Prozess, um eine «neue Phase innerer Harmonie» und eines Friedens zu schaffen. 

Das saudische Außenministerium teilte mit, das Königreich stehe den Syrern und deren Entscheidungen «in dieser entscheidenden Phase der syrischen Geschichte» zur Seite. Die Einheit und der Zusammenhalt Syriens müsse geschützt werden, hieß es. Das Außenministerium in Katar rief dazu auf, «nationale Einrichtungen und die staatliche Einheit» zu bewahren, um ein Abdriften des Landes ins Chaos zu verhindern. Auch Katar stehe «unerschütterlich» hinter dem syrischen Volk und dessen Entscheidungen.

Biden: US-Soldaten bleiben in Syrien

Der scheidende US-Präsident Joe Biden kündigte unterdessen an, dass amerikanische Soldaten bis auf Weiteres in Syrien bleiben werden. Die USA ließen nicht zu, dass die Terrormiliz IS dort das Machtvakuum nutzen könne, um den eigenen Einfluss wieder auszubauen, sagte Biden. Er sieht den Sturz von Assad auch als Folge seiner eigenen Außenpolitik. «Die wichtigsten Unterstützer von Assad waren der Iran, die Hisbollah und Russland». Zuletzt sei deren Unterstützung aber zusammengebrochen, «denn alle drei sind heute viel schwächer, als sie es bei meinem Amtsantritt waren», sagte Biden. 

Die US-Regierung werde Syriens Nachbarländer, darunter Jordanien, den Libanon, den Irak und Israel, unterstützen, falls in der Übergangsphase eine Bedrohung von Syrien ausgehen sollte, sagte Biden weiter. Er werde in den kommenden Tagen mit Staats- und Regierungschefs in der Region sprechen und ranghohe Beamte dorthin entsenden, so der US-Präsident. «Dies ist ein Moment erheblicher Risiken und Unsicherheit». Es sei aber zugleich für die Syrer die beste Chance seit Generationen, ihre eigene Zukunft zu gestalten. 

Israel verlegt Truppen in Pufferzone

Israel verlegte derweil seine Streitkräfte in die Pufferzone auf den besetzten Golanhöhen und anderen Orten, darunter auch auf der syrischen Seite des Berges Hermon. «Seit gestern Abend sind wir an vier Fronten im Kampfeinsatz. Die Bodentruppen kämpfen an vier Fronten: gegen den Terrorismus in Judäa und Samaria, im Gazastreifen, im Libanon, und gestern Abend haben wir Truppen in syrisches Gebiet verlegt», sagte Israels Generalstabschef Herzi Halevi. «Wir werden es keiner feindlichen Kraft erlauben, sich an unserer Grenze zu positionieren», betonte Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu.

Laut Aktivisten flog die israelische Luftwaffe nach dem Sturz Assads Angriffe im Raum der syrischen Hauptstadt Damaskus. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichtete, dass das Militär in der Nähe des Militärflughafens angegriffen habe. Es gab auch Angriffe im Osten Syriens, bei denen Waffenlager des syrischen Militärs und proiranischer Milizen getroffen wurden. Vorher hatte die israelische Luftwaffe Medienberichten zufolge eine Chemiewaffenfabrik angegriffen, da die Sorge bestand, dass die Waffen in die Hände von Rebellen fallen könnten. Die israelische Armee hat sich dazu nicht geäußert.

Iran: Widerstand gegen Israel geht weiter

Der Iran betonte derweil, der Sturz Assads werde den Widerstand gegen Israel nicht stoppen. «Der Machtwechsel in Syrien könnte den weiteren Kurs der Widerstandsfront gegen das zionistische Regime (Israel) kurzfristig beeinträchtigen, aber definitiv nicht aufhalten», sagte Außenminister Abbas Araghtschi. Der Widerstand gegen Israel sei «eine ideologische Mission und kein klassischer Krieg» und gehe daher weiter, sagte er dem Staatssender Irib.

Kriegsforscher: Putins Glaubwürdigkeit beschädigt

Laut dem US-Institut für Kriegsstudien (ISW) wird die Glaubwürdigkeit von Kremlchef Wladimir Putin bei seinen Verbündeten durch den plötzlichen Sturz des von Russland unterstützten syrischen Machthabers Assad erschüttert. Putin hat autoritäre Machthaber in verschiedenen Ländern geschützt, um eine multipolare Weltordnung zu erreichen und die Vormachtstellung der USA zu schwächen, heißt es in einer aktuellen Lageeinschätzung des Instituts.

«Russlands Unfähigkeit oder bewusster Verzicht darauf, Assads Regime trotz des schnellen Vorrückens der Oppositionskräfte im ganzen Land zu stärken, wird auch Russlands Glaubwürdigkeit als verlässlicher und effektiver Sicherheitspartner in der ganzen Welt beschädigen», heißt es in der Analyse.

dpa