Nach der monatelangen Blockade von Hilfsgütern durch Israel herrscht unter Palästinensern im Gazastreifen akute Verzweiflung. Bei einem Ansturm auf ein UN-Lager kommt es zu einem tödlichen Gedränge.
Tote bei Sturm auf UN-Lebensmittellager in Gaza
Die humanitäre Notlage im umkämpften Gazastreifen spitzt sich weiter zu. Bei einem tumultartigen Sturm auf ein großes Lagerhaus des Welternährungsprogramms (WFP) im Zentrum des abgeriegelten Küstengebiets kamen nach Angaben der UN-Organisation mindestens zwei Menschen ums Leben, viele weitere seien verletzt worden. «Horden hungriger Menschen» seien in das Lagerhaus eingedrungen, um an «zur Verteilung bereitgestellte Lebensmittel» zu gelangen, hieß es in einer Mitteilung auf X.
Augenzeugen haben berichtet, dass es vor allem am Haupttor des Lagerhauses zu einem großen Gedränge gekommen ist. Es gab auch Berichte darüber, dass einige Personen Teile der Metallwände eingerissen haben, um sich Zugang zum Lager zu verschaffen. In Videos in den sozialen Medien war zu sehen, wie viele Menschen unter lautem Geschrei das Lagerhaus gestürmt und geplündert haben. Laut medizinischen Kreisen im Al-Aksa-Krankenhaus in Deir al-Balah wurden zwei Personen erdrückt und zwei weitere durch Schüsse getötet.
Umstrittene Stiftung weist Berichte zurück
Vor dem Hintergrund der monatelangen Blockade von Hilfsgütern durch Israel, die erst kürzlich etwas gelockert wurde, befinden sich viele Menschen im Küstenstreifen in einer verzweifelten Situation – es mangelt an Nahrungsmitteln, Trinkwasser, Medikamenten und anderen lebensnotwendigen Dingen. Es gab bereits Berichte über Plünderungen und einen Angriff auf ein neues Verteilzentrum, das von der umstrittenen Stiftung Gaza Humanitarian Foundation (GHF) betrieben wird.
Die Stiftung wies jedoch Berichte über Tote, massenhaft Verletzte und Chaos an den von ihr eingerichteten Verteilzentren in Gaza zurück. An keinem Standort der GHF habe es Todesfälle gegeben. «Berichte, die anderes behaupten, stammen von der Hamas und sind falsch», hieß es.
Israels Regierung bekämpft die palästinensische Terrororganisation militärisch und behauptet, dass sie frühere Hilfslieferungen für eigene Zwecke umgeleitet und verkauft habe, um Waffen und Kämpfer zu finanzieren. Dies wird auch als Grund für die neue Verteilungsstrategie genannt. UN-Vertreter sagen, dass Israel keine Beweise für die Anschuldigungen vorgelegt hat.
An den zwei bisher eröffneten Verteilungszentren seien bislang 14.550 Lebensmittelpakete verteilt worden, teilte die GHF mit. Die Einsätze sollten heute weitergehen und auf vier geplante Standorte ausgeweitet werden. «In den kommenden Wochen ist der Aufbau weiterer Verteilungszentren in Gaza geplant», hieß es.
UN und Israel machen sich gegenseitig Vorwürfe
Die israelische Regierung möchte, dass die Stiftung zukünftig die Verteilung von Hilfsgütern übernimmt, um Hilfsorganisationen der UN und anderer internationaler Initiativen zu umgehen.
Das UN-Nothilfebüro übte scharfe Kritik daran und sprach von einem «militarisierten Verteilungssystem», das die Menschen gefährde und ihren Bedürfnissen nicht gerecht werde. «Die israelischen Behörden haben die Fähigkeit unserer Teams untergraben, echte, auf Prinzipien beruhende humanitäre Hilfe zu leisten.» Man beteilige sich nicht an Vorhaben, «die unsere Neutralität, Unparteilichkeit oder Unabhängigkeit untergraben». Hilfe dürfe «nicht als Waffe eingesetzt werden».
Israels UN-Botschafter Danny Danon warf den UN wiederum «Erpressung und Drohungen» gegen humanitäre Organisationen vor, die mit der GHF zusammenarbeiteten. «Das ist mafiaähnliches Verhalten und ein eklatanter Verstoß gegen die Grundprinzipien der UN», wetterte Danon auf X.
Lage in Gaza «so düster wie nie zuvor»
Seit Beginn des Gaza-Kriegs im Oktober 2023 hat sich die Notlage der rund zwei Millionen Menschen in dem dicht besiedelten Küstengebiet drastisch verschärft. Nach 600 Tagen sei die humanitäre Lage «so düster wie nie zuvor», konstatiert das UN-Nothilfebüro.
«Die Zivilisten in Gaza haben die Hoffnung verloren», berichtete die UN-Koordinatorin für humanitäre Hilfe für den Gazastreifen, Sigrid Kaag, dem UN-Sicherheitsrat in New York. «Anstatt „Auf Wiedersehen“ zu sagen, sagen die Palästinenser in Gaza jetzt „Wir sehen uns im Himmel“.» Der Tod sei ständiger Begleiter für die Zivilisten, nicht die Hoffnung. Der US-Chirurg Feroze Sidhwa zitierte vor dem mächtigen UN-Gremium Erkenntnisse der Organisation «War Child Alliance», laut der jedes zweite Kind in Gaza suizidgefährdet ist.
Der Krieg begann mit dem Terrorüberfall der Hamas und anderer islamistischer Gruppen am 7. Oktober 2023 im Süden Israels. Etwa 1.200 Menschen wurden getötet und über 250 weitere als Geiseln in den Gazastreifen gebracht.
Seit Kriegsbeginn kamen nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde mehr als 54.000 Palästinenser in Gaza ums Leben. Die unabhängig kaum zu überprüfende Zahl fasst Kämpfer und Zivilisten zusammen. «Der Geruch des Todes hat uns seit 600 Tagen nicht verlassen», sagte ein palästinensischer Bewohner in Deir al-Balah dem US-Sender CNN.
Demonstrationen in Israel
Am Abend versammelten sich erneut Tausende Menschen in Tel Aviv, um gegen den Krieg zu protestieren und die sofortige Freilassung der Geiseln zu fordern, die immer noch in der Gewalt der Hamas sind. Die Angehörigen betonten, dass ihre Liebsten bereits seit 600 Tagen in Geiselhaft sind. Laut israelischen Angaben befinden sich derzeit noch mindestens 20 lebende Geiseln im Gazastreifen, wo die Hamas ein umfangreiches Tunnelsystem zur Verteidigung gegen Israels Militär errichtet hat.
«In den Tunneln kannst du nicht wissen, ob ein Terrorist eines Morgens aufsteht und dich einfach erschießt oder ob der Tunnel, in dem du schläfst, durch eine Bombe gesprengt wird», schilderte Iair Horn, der im Februar freigekommen war und dessen Bruder Eitan noch immer als Geisel in Gaza festgehalten wird.
Vor der Kundgebung war es auf dem Platz der Geiseln im Zentrum Tel Avivs zu chaotischen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei gekommen. Vor dem Hauptsitz der Partei des israelischen Regierungschefs Benjamin Netanjahu wurden laut einem Bericht der «Times of Israel» 62 Menschen festgenommen, die das Parteigebäude besetzt und die Straßen davor blockiert hatten. Zwei Polizisten seien bei den Zusammenstößen verletzt worden.