Der Anteil der Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund steigt, 2021 lag er bei rund 13 Prozent. Unter ihnen sind viele Wechselwähler. Von den Parteien fühlen sie sich oft nicht gesehen.
Unterwegs in Neukölln – Zuwanderer tendieren eher nach links
Die Mehrheit der deutschen Wählerinnen und Wähler mit Migrationshintergrund bevorzugt Parteien aus dem Mitte-Links-Spektrum. Nur bei Zuwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion und ihren Nachkommen haben CDU und CSU eine starke Unterstützung, wie eine neue Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (Dezim) in Berlin zeigt.
Schwache Konjunktur und Preisanstieg sind größte Sorge
Die Forscher haben auch festgestellt, dass die Sorgen der wahlberechtigten Bürger mit und ohne Migrationshintergrund ähnlich sind. Die schwache deutsche Wirtschaft und die Inflation sind derzeit das Hauptproblem für alle Deutschen.
Die Daten zeigen zudem, dass Menschen mit Migrationshintergrund besonders häufig befürchten, Opfer einer Straftat zu werden. Dabei spielen nach Einschätzung der Autoren auch die materiellen Lebensumstände eine Rolle: «Prekäre wirtschaftliche Umgebungen und mangelnder Wohnraum sind oft mit einer höheren Kriminalitätsrate verbunden», heißt es in der Studie.
Die Forscher hatten nicht danach gefragt, wen die Teilnehmer der Umfrage wählen würden, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre, sondern welche Partei sie für wählbar halten. Laut der Untersuchung hat die SPD mit 74 Prozent insgesamt das größte Wählerpotenzial, gefolgt von CDU und CSU, Grünen und FDP.
Betrachtet man jedoch die verschiedenen Gruppen, so zeigen sich Unterschiede. Zum Beispiel gibt es bei Wählern mit Wurzeln in Nicht-EU-Staaten weniger Zustimmung für die Grünen als bei Menschen ohne Migrationshintergrund.
In allen von den Wissenschaftlern betrachteten Gruppen mit ausländischer Herkunft haben Die Linke und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) mehr Wählerpotenzial als unter Wählerinnen und Wählern ohne Einwanderungsgeschichte. Mit einer Ausnahme: Menschen mit Wurzeln in Russland oder anderen Gebieten der Ex-Sowjetunion haben etwas weniger Vertrauen in die Partei Die Linke.
Gemäß der Studie werden Personen mit Migrationshintergrund als solche betrachtet, deren Elternteil ohne deutsche Staatsbürgerschaft geboren wurde.
Nahostkonflikt beschäftigt zugewanderte Wähler stärker
Der Nahostkonflikt hat in letzter Zeit auch Menschen mit Migrationshintergrund große Sorgen bereitet. Insbesondere Menschen aus der Türkei und der arabischen Welt betrachten diesen Konflikt oft aus einer anderen Perspektive als Deutsche ohne ausländische Vorfahren. 42,7 Prozent der befragten Personen mit ausländischen Wurzeln sind besorgt darüber. Bei den Menschen ohne Migrationshintergrund sind es 34,8 Prozent.
Der SPD-Bundestagsabgeordnete Hakan Demir aus Berlin-Neukölln stellt fest, dass in seinem Wahlkreis viele Anti-AfD-Aufkleber auf den Wohnungstüren kleben, wenn er unterwegs ist.
«Hohe Mieten, der Müll, der auf der Straße herumliegt, hohe Lebensmittelpreise: Das sind die Themen, auf die ich am meisten angesprochen werde», sagt Demir. Gerade Menschen mit Migrationshintergrund hätten ihn zuletzt jedoch auch nach der Position seiner Partei zum Krieg im Gaza-Streifen gefragt. Er sagt dann, die SPD sei für eine Zwei-Staaten-Lösung, also für einen palästinensischen Staat, der in friedlicher Nachbarschaft mit Israel lebt.
Mohammed al-Zoubi, den der 40-jährige Abgeordnete bei seinem Tür-zu-Tür-Wahlkampf trifft, reicht das nicht. Er sagt: «Ich sehe kritisch, dass wir Waffen liefern an Israel.» Dann fügt der 34-Jährige hinzu: «Vor Olaf Scholz war ich für die SPD, aber er hat verkackt.» Bei der Wahl im Februar wolle er die Linke wählen, sagt er. Einen Kaffee bietet der Altenpfleger aus Syrien, der noch müde ist von seiner Nachtschicht, dem SPD-Kandidaten trotzdem an.
Demir will in Neukölln an 20.000 Türen klopfen
Unfreundliche oder gar feindselige Kommentare erntet Demir im Haustür-Wahlkampf kaum, sagt er. Sein Ziel sind 20.000 Wohnungen, an 5.000 Türen hat er nach eigener Aussage schon geklopft. Manche Bewohner seines Viertels sagen knapp: «Kein Interesse.»
«Die SPD macht viel für Ausländer», lobt ein junger Mann, der mit starkem Akzent Deutsch spricht. «Meine Frau erklärt mir, wie das hier in Deutschland mit der Politik läuft», sagt er und nimmt bereitwillig den Flyer des SPD-Kandidaten entgegen.
Für ihn sei früher immer wichtig gewesen, «welche Partei nimmt mich wahr und akzeptiert mich», sagt Yunus Ulusoy vom Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI) in Essen. Für die Enkel der Eingewanderten seien inzwischen aber auch andere Fragen wichtig, wenn es darum geht, welcher Partei sie ihre Stimme geben.