Am DDR-Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße in Berlin wird ein Mann im Auftrag der Stasi erschossen. Erst 50 Jahre später kommt der Fall vor Gericht. Nun wollen die Richter ihr Urteil sprechen.
Urteil erwartet im Prozess gegen Ex-Stasi-Offizier
Mitten am Tag wird am DDR-Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße in Ost-Berlin ein Mann hinterrücks erschossen. Es dauert Jahrzehnte, bis Anklage erhoben werden kann und der Fall im wiedervereinigten Deutschland vor Gericht kommt. Rund 50 Jahre nach der Tat will das Landgericht Berlin heute (11.00 Uhr) sein Urteil im Prozess gegen einen inzwischen 80 Jahre alten Ex-Stasi-Mitarbeiter sprechen.
Die Staatsanwaltschaft Berlin hat zwölf Jahre Haft wegen heimtückischen Mordes beantragt. Staatsanwältin Henrike Hillmann ist überzeugt, dass der damalige Oberleutnant am 29. März 1974 im Auftrag der Stasi aus einem Hinterhalt heraus den 38-jährigen Polen Czesław Kukuczka aus einer Entfernung von zwei bis drei Metern erschossen hat.
Angeklagter bestreitet Vorwürfe
Die Anwältin des deutschen Angeklagten forderte hingegen einen Freispruch. Es wurde nicht nachgewiesen, dass ihr Mandant der Schütze war. Der 80-Jährige schwieg zu den Anschuldigungen. Seine Anwältin hatte zu Beginn des Prozesses erklärt, dass ihr Mandant dies bestreite.
Der Sachse soll einer Operativgruppe des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) angehört haben und mit der «Unschädlichmachung» des Polen beauftragt worden sein. Zuvor soll dieser in der polnischen Botschaft versucht haben, seine Ausreise nach West-Berlin mit einer Bombenattrappe zu erzwingen.
Laut Angaben des Berichts wurde der 38-Jährige vom MfS mit einer inszenierten Ausreise in eine Falle gelockt. Er erhielt Dokumente und wurde von Stasi-Mitarbeitern zum Bahnhof Friedrichstraße gebracht. Nachdem er jedoch den letzten Kontrollpunkt passiert hatte, fiel der Schuss.
Westdeutsche Schüler Zeugen der Tat
Es waren Schülerinnen aus Westdeutschland einer 10. Klasse, die zufällig Zeuginnen der Tat wurden. Sie hatten Ost-Berlin besucht und wollten zurück in den West-Teil der damals geteilten Stadt. Eindrucksvoll schilderten mehrere Schülerinnen aus Hessen vor Gericht die Geschehnisse – und von ihrer Angst und Fassungslosigkeit.
«Hinter mir stand ein Mann mit einer Reisetasche», erinnerte sich eine 65-Jährige. Der Mann sei vorgezogen worden. Nachdem er seinen Pass zurückbekommen habe, sei er zielgerichtet auf die Unterführung zugegangen. Plötzlich sei jedoch ein Mann in einem langen Mantel und mit Sonnenbrille von hinten vorgetreten – und der Schuss sei gefallen. Der Mann mit der Reisetasche sei zusammengesunken. «Das sehe ich noch bildlich vor mir», so die Zeugin. Danach seien sofort die Türen geschlossen worden. «Wir hatten unheimliche Angst.» Zurück im Westen informierte der Lehrer die Polizei.
Ein Berliner Kommissar berichtete im Prozess, dass es damals eine erfolglose Anfrage an die Justiz im Osten gegeben habe. Die alten Akten wurden dem Polizisten für die neuen Ermittlungen vorgelegt, aber über viele Jahre hinweg gab es keine Fortschritte.
Entscheidender Hinweis erst 2016
Erst im Jahr 2016 lieferte das Stasi-Unterlagen-Archiv einen entscheidenden Hinweis zur möglichen Identität des Schützen: Ein vom damaligen Staatssicherheits-Minister Erich Mielke unterzeichneter Befehl nannte zwölf MfS-Mitarbeiter, die im Kontext mit der Tötung ausgezeichnet werden sollten. Der Angeklagte wurde laut Schriftstück von der Stasi mit dem «Kampforden in Bronze» ausgezeichnet.
Die Staatsanwaltschaft ging zunächst von einem Totschlag und nicht von Mord aus und stellte das Verfahren 2017 ein, weil die Tat in diesem Fall verjährt gewesen wäre. Inzwischen sieht die Staatsanwaltschaft jedoch das Mordmerkmal der Heimtücke erfüllt. Hintergrund für die neue Bewertung war ein europäischer Haftbefehl gegen den Angeklagten nach beharrlichen Nachforschungen auf polnischer Seite.
Verteidigung: Nicht klar, dass der Angeklagte der Schütze war
Die Verteidigerin des Ex-Stasi-Mitarbeiters mahnte in ihrem Plädoyer, Recherchen von Historikern reichten nicht aus für eine rechtliche Bewertung. «Historiker sprechen nicht Recht im Namen des Volkes», betonte Andrea Liebscher. «Ich denke, dass man alles, was nach 50 Jahren noch herauszufinden war, auch herausgefunden hat.»
Nach Angaben der Anwältin ist nicht klar bewiesen, dass ihr Mandant der Schütze war. Außerdem ist sie der Überzeugung, dass es sich um Totschlag und nicht um Mord handelt. Das Opfer konnte angesichts seiner vorherigen inszenierten Bombendrohung nicht arglos gewesen sein.
Auszeichnung mit «Kampforden» führte auf die Spur
Der Vorsitzende Richter Bernd Miczajka hatte zu Prozessbeginn deutlich gemacht, wo die Schwierigkeit rund 50 Jahre nach der Tat liegt: «Vieles wird auf der Bewertung von Urkunden beruhen.» Das Gericht müsse sich ein Bild davon machen, wie verlässlich diese seien. Es ging vor allem um den Vorschlag zur Auszeichnung mit dem «Kampforden» nach der Tat.
In den vergangenen gut sechs Monaten hat die Kammer mehrfach vom Stasi-Unterlagen-Archiv Skizzen oder Schriftstücke angefordert. Eine Sachverständige für Geschichtswissenschaften wurde als Zeugin gehört. Dennoch blieben viele Fragen offen, auch weil potenzielle Zeugen nicht mehr befragt werden konnten, da sie mittlerweile verstorben sind.
Dankbarkeit von Angehörigen
Die Verteidigung ist der Ansicht, dass das Gericht sein Bestes getan hat, um den Fall mit den vorhandenen Mitteln aufzuklären. Auch die Angehörigen des Opfers, die im Verfahren als Nebenkläger auftreten, sind zufrieden.
Es sei ihren Mandanten nie um eine bestimmte Strafe oder Rache gegangen, betonten die Anwälte der drei Kinder – eine Tochter und zwei Söhne – sowie einer Schwester des getöteten Polen. «Man wollte einfach nur ein Urteil», so Anwalt Rajmund Niwinski. «Die Nebenkläger sind dem Gericht, dem deutschen Staat dankbar, dass es dieses Verfahren gab.»