Die Republik ist erschüttert. Ein Auto rast kurz vor Heiligabend in einen Weihnachtsmarkt. Traurige Bilanz des Anschlags: Fünf Tote und 200 Verletzte. Nun gibt es erste Hinweise zum Motiv.
Todesfahrt von Magdeburg: Zwischen Schock und Spurensuche
Nach dem Anschlag auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt mit mindestens fünf Toten werden weitere Einzelheiten über die schockierende Tat bekannt. Laut dem Leitenden Oberstaatsanwalt Horst Walter Nopens in Magdeburg könnte das Motiv des mutmaßlichen Täters Unzufriedenheit mit dem Umgang von Flüchtlingen aus Saudi-Arabien in Deutschland gewesen sein.
Die Staatsanwaltschaft ermittelt nun gegen den Verdächtigen wegen fünffachen Mordes. Der Tatvorwurf lautet außerdem auf versuchten Mord in 200 Fällen in Verbindung mit gefährlicher Körperverletzung, so Nopens. Der Tatverdächtige befindet sich derzeit in polizeilichem Gewahrsam. Er hat bereits Angaben zur Tat gemacht. Die Bundesanwaltschaft prüft noch, ob sie die Ermittlungen übernimmt, teilten die Sicherheitskräfte in Magdeburg mit.
Das Auto war am Freitagabend auf einem Weihnachtsmarkt mit hoher Geschwindigkeit in eine Menschenmenge gerast. Nach Behördenangaben wurden vier Erwachsene und ein neunjähriges Kind getötet. Es gebe insgesamt 205 Opfer, darunter 5 Tote. Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) sprach von einem «menschenverachtenden Anschlag». Nach Informationen der Stadt wurden die Opfer in 15 Kliniken gebracht, auch nach Brandenburg.
Stadt verteidigt Sicherheitskonzept
Laut Tom-Oliver Langhans, dem Direktor der Polizeiinspektion Magdeburg, soll der Verdächtige mit seinem Auto über einen Flucht- und Rettungsweg auf den Weihnachtsmarkt gefahren sein. Die Festnahme erfolgte nach etwa drei Minuten.
Der Rettungsweg war nach Angaben der Stadt nicht durch Sperren oder Poller geschützt. Notarzt und Feuerwehr sollten über diesen Weg bei Unfällen oder anderen Einsätzen auf dem Platz gelangen können, erklärte Ronni Krug, Beigeordneter für Personal, Bürgerservice und Ordnung der Stadt. Dort seien aber mobile Einsatzkräfte stationiert gewesen. Das Konzept habe sich «über lange Jahre bewährt».
Man habe es mit einem Fall zu tun, mit dem kein Veranstalter habe rechnen könne, sagte Krug. Das Sicherheitskonzept für den Markt sei zuletzt im November dieses Jahres verschärft worden, es sei «nach bestem Wissen und Gewissen» erstellt worden.
Die AfD-Landtagsfraktion hat eine Sondersitzung des Innenausschusses gefordert – auch zur Klärung möglicher Fehlverhalten oder Versäumnisse.
Verdächtiger erhielt Asyl
Der Verdächtige, der am Abend festgenommen wurde, ist Taleb A., ein Arzt aus Bernburg, der aus Saudi-Arabien stammt. Er ist ein islamkritischer Aktivist. Laut Informationen der Deutschen Presse-Agentur bezeichnet sich der 50-Jährige, der seit 2006 in Deutschland lebt, selbst als Ex-Muslim. Im Februar 2016 stellte er einen Asylantrag, der im Juli desselben Jahres genehmigt wurde. Als politisch Verfolgter erhielt der saudische Staatsbürger damals Asyl.
In den sozialen Medien und Interviews hat Taleb A. kürzlich teils verwirrende Vorwürfe gegen deutsche Behörden erhoben. Er beschuldigte sie unter anderem, nicht genug gegen den Islamismus zu unternehmen. Laut einer Sprecherin des Gesundheitsunternehmens Salus war der 50-Jährige als Facharzt für Psychiatrie im Maßregelvollzug in Bernburg tätig. Er hat mit suchtkranken Straftätern gearbeitet und war seit März 2020 in der Einrichtung beschäftigt.
Der Mann wurde nach seiner Fahrt zum Tatort von Einsatzkräften gestellt und festgenommen. Ein zweiter Täter kann laut einem Polizeisprecher in Magdeburg derzeit ausgeschlossen werden.
Warnung aus Saudi-Arabien
Laut saudischen Sicherheitskreisen hatte Saudi-Arabien Deutschland vor Taleb A. gewarnt. Das Königreich hat um seine Auslieferung gebeten, jedoch hat Deutschland nicht reagiert. Der Mann stammt aus der Stadt Al-Hofuf im Osten Saudi-Arabiens und war Schiit. Etwa zehn Prozent der Bevölkerung in dem hauptsächlich sunnitischen Land sind schiitisch. Es gibt Berichte über Diskriminierung gegen Schiiten im Land. Saudi-Arabien hat die tödliche Attacke in einer Mitteilung auf X verurteilt, ohne den Verdächtigen zu erwähnen.
Berliner Justiz kannte Taleb A.
Nach dpa-Informationen lag gegen Taleb A. zudem ein Verfahren der Amtsanwaltschaft Berlin wegen des Missbrauchs von Notrufen durch Taleb A. vor. Zuerst hatte der «Spiegel» berichtet. Dem Angeklagten wurde vorgeworfen, im Februar im Dienstgebäude der Berliner Polizei den Notruf der Feuerwehr gewählt zu haben, ohne dass ein Notfall vorgelegen habe. Daher wurde beim Amtsgericht Tiergarten Strafbefehl beantragt, der mit 20 Tagessätzen zu je 30 Euro erlassen wurde.
Laut Berliner Staatsanwaltschaft hat der Angeklagte Einspruch eingelegt, aber er ist nicht zum Hauptverhandlungstermin am vergangenen Donnerstag (19. Dezember) erschienen. Der Einspruch wurde auf Antrag der Amtsanwaltschaft verworfen.
Scholz verspricht Aufklärung
Nach Angaben von Haseloff raste der Mann bei dem Anschlag mit einem Leihwagen in die Menschenmenge. Die «Bild» schrieb unter Berufung auf die Polizei, dass sich die Fahrt auf dem Gelände über 400 Meter erstreckt habe. Es würden Durchsuchungen durchgeführt, sagte eine Sprecherin.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sprach bei einem Besuch vor Ort von einer «furchtbaren, wahnsinnigen Tat». Es gebe keinen friedlicheren und fröhlicheren Ort als einen Weihnachtsmarkt. Jetzt sei wichtig, dass man aufkläre, mit aller Präzision und Genauigkeit, sagte Scholz. «Es darf nichts ununtersucht bleiben – und so wird es auch sein.» Man müsse den Täter, seine Handlungen und Motive genau verstehen und darauf mit den strafrechtlichen Konsequenzen reagieren.
Haseloff will Opfern helfen
Ministerpräsident Haseloff will den Opfern und Angehörigen der Todesfahrt unter die Arme greifen. Sein Kabinett habe Festlegungen getroffen über «finanzielle und organisatorische Ressourcen», sagte Haseloff. Mit dem Kanzler habe man darüber geredet, wie die Hilfe und Unterstützung des Bundes aussehen werde.
Die Stadt Magdeburg und Wohlfahrtsverbände haben Spendenkonten für die Opfer und Betroffenen eingerichtet. “Es ist wichtig, den Betroffenen so schnell wie möglich Unterstützung zu bieten”, erklärte die Stadt. Der Opferbeauftragte der Bundesregierung, Pascal Kober, kümmert sich um die Betreuung der Betroffenen nach dem Vorfall. Das Bundesjustizministerium teilte mit, dass bei Bedarf psychosoziale und praktische Hilfe angeboten wird.
Neben Scholz und Haseloff besuchten auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), Bundesjustizminister Volker Wissing, Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) und Unionsfraktionschef Friedrich Merz (CDU) am Vormittag den Tatort. Am Abend war im Dom eine Gedenkfeier geplant. Das Innenministerium von Sachsen-Anhalt ordnete bis Montag Trauerbeflaggung an allen Dienstgebäuden des Landes an. Bundesinnenministerin Faeser ordnete bundesweit Trauerbeflaggung an den obersten Bundesbehörden an.
Auch Mitgefühl von Nato und UN
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier schrieb: «Die Vorfreude auf ein friedliches Weihnachtsfest wurde durch die Meldungen aus Magdeburg jäh unterbrochen.» Nato-Generalsekretär Mark Rutte drückte Scholz sein Mitgefühl aus. Die Vereinten Nationen bekundeten ihr Beileid ebenso wie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Der französische Präsident Emmanuel Macron schrieb auf X, Frankreich teile den Schmerz des deutschen Volks. Er sei zutiefst erschüttert über «den Horror», der den Weihnachtsmarkt heimgesucht habe.
Video soll Festnahme des Verdächtigen zeigen
Ein Handyvideo soll die Festnahme des Verdächtigen zeigen. In dem Clip ist zu sehen, wie ein Polizist seine Waffe auf den Verdächtigen richtet und ihm zuruft, sich hinzulegen: «Die Hände auf den Rücken!» und «Bleib liegen!» Der Mann legt sich neben einem schwarzen – sichtbar beschädigten – Auto auf den Boden und befolgt die Anweisungen. Schließlich kommt Verstärkung, mehrere Polizisten springen aus dem Einsatzwagen und umkreisen den liegenden Verdächtigen.
Rund acht Jahre nach Berliner Weihnachtsmarktanschlag
Fast genau acht Jahre zuvor, am 19. Dezember 2016, fuhr ein islamistischer Terrorist mit einem entführten Lastwagen in den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin. Dabei wurden zwölf Menschen getötet, das 13. Opfer verstarb 2021 an den Folgen. Über 70 Menschen wurden verletzt. Der Täter floh nach Italien, wo er von der Polizei erschossen wurde. Die Berliner Polizei plant nun, ihre Präsenz auf den Berliner Weihnachtsmärkten zu verstärken.