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Krankenversicherung ins Grundgesetz?

Wer weiß, wer genau über die milliardenschweren Sozialbeiträge und ihre Verwendung entscheidet? Es ist nicht der Staat allein. Diese Besonderheit könnte bald Verfassungsrang in Deutschland bekommen.

Peter Weiß kennt den Sozialbereich aus dem Effeff - nun will er die Sozialversicherung im Grundgesetz verankern.
Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Soll die Krankenversicherung ins Grundgesetz? Das fragt ein langjähriger Experte für das deutsche Sozialsystem, der Bundesbeauftragte für die Sozialwahlen, Peter Weiß. Auch die Arbeitslosen-, die Renten- und die Unfallversicherung sollen laut Weiß in der Verfassung verankert werden – genauer gesagt: die gesamte Sozialversicherung mit ihrer Selbstverwaltung. Gleichzeitig plädiert Weiß für mehr Demokratie – konkret durch eine stärkere Beteiligung der Versicherten an Leistungen und Beiträgen.

«Einfach so weiterzumachen, wie bisher – das geht nicht», sagte Weiß der Deutschen Presse-Agentur. Sonst habe die Sozialversicherung in ihrer heutigen Form wohl kaum eine Zukunft, heißt es auch in einem nun veröffentlichten Abschlussbericht zu den Sozialwahlen 2023. Die Idee: In der Verfassung festzuschreiben, dass die Sozialversicherung «unter maßgeblicher Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu organisieren ist», wie Weiß sagt.

22 Millionen konnten online wählen

Das mag für viele weit von der eigenen Lebenswirklichkeit erscheinen. Kein Wunder: Viele Menschen in Deutschland kennen die Sozialwahlen nicht – damit geht einher, dass sie «die soziale Selbstverwaltung nicht zur Kenntnis nehmen beziehungsweise nicht wertschätzen», wie Weiß und seine Stellvertreterin Doris Barnett in Empfehlungen an Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) schreiben.

In den jüngsten Sozialwahlen waren etwa 52 Millionen Menschen im Jahr 2023 wahlberechtigt. Nur etwa jeder Fünfte hat tatsächlich gewählt. Im Vergleich zu den Sozialwahlen 2017 ist die Beteiligung um fast acht Prozentpunkte gesunken. Bei den Sozialwahlen werden die Mitglieder der Verwaltungsräte von gesetzlichen Krankenkassen sowie der Vertreterversammlungen der Unfall- und Rentenversicherungen gewählt. Erstmals war bei großen Krankenkassen – insgesamt bei 22 Millionen Wahlberechtigten – eine Online-Stimmabgabe möglich. Im Vergleich dazu betrug die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2021 knapp 77 Prozent.

Was unterscheiden Sozial- und Bundestagswahl?

Wo ist der maßgebliche Hauptunterschied? «Die Wahlbeteiligung ist immer dann groß», stellt der Sozialwahl-Abschlussbericht nüchtern fest, «wenn es “um etwas geht'” wenn Weichenstellungen anstehen (…), wenn der Wahlkampf geeignet ist, Emotionen auszulösen».

Das ist bei der Sozialversicherung nicht wirklich der Fall. Dabei haben die Krankenkassen für quasi jede und jeden Einzelnen existenzielle Bedeutung – und für die Gesellschaft insgesamt als «Garant des sozialen Friedens», so der Abschlussbericht. Und es geht um unvorstellbare Summen. So wurden 2023 in Deutschland rund 1250 Milliarden Euro für soziale Leistungen ausgegeben, davon mehr als 840 Milliarden aus Sozialbeiträgen von Beschäftigten und Arbeitgebern.

Es geht um Geld – und was man dafür bekommt

Richtige Wahlkämpfe gibt es bei Sozialwahlen trotzdem nicht. Die dort gewählten Gremien haben ziemlich wenig zu sagen. Der Bericht stellt fest, «dass der Bundesgesetzgeber die Angelegenheiten der Mitglieder der Träger der Sozialversicherung bis in nahezu jedes Detail durch Bundesgesetz geregelt hat». Für Mitsprache bleibe kaum Spielraum.

Hätten die Angelegenheiten der Sozialversicherung das Zeug für «interessante Wahlkämpfe»? Weiß und die Sozialwahl-Verantwortlichen meinen: ja. Ihr Bericht benennt, worum es gehen könnte: um Geld und was man dafür bekommt. «Habe ich die Wahl zwischen geringeren Leistungen, Selbstbehalten, begrenzter Auswahl an Leistungserbringern usw. bei gleichzeitiger Verringerung meiner Beitragslast?» Doch über all dies hat in aller Regel schon der Gesetzgeber entschieden.

«Wollen nicht mehr Staat, sondern weniger»

Die Kandidatinnen und Kandidaten bei den Sozialwahlen sind in der Regel mit der Materie vertraut. Sie stammen meist aus Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen. Der Gedanke hinter der Sozialwahl ist, dass diejenigen, die einzahlen, auch mitbestimmen sollen. Die gewählten Gremien beschließen unter anderem die Haushalte ihrer Versicherungen.

Selbstverwaltung in den bestehenden Anstalten oder Körperschaften des öffentlichen Rechts einschlafen zu lassen, «wäre töricht», sagt Weiß, der als Arbeitsmarktexperte seiner Fraktion selbst weitreichende Sozialgesetze mitverhandelt hatte. «Wir wollen ja nicht mehr Staat, sondern weniger – und mehr Bürgerbeteiligung.»

Soll es gemacht werden wie in Weimar?

Für eine Verankerung in der Verfassung gibt es übrigens ein Beispiel: die Weimarer Reichsverfassung. Artikel 161 lautete: «Zur Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, zum Schutz der Mutterschaft und zur Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Schwäche und Wechselfällen des Lebens schafft das Reich ein Versicherungswesen unter maßgeblicher Mitwirkung der Versicherten.»

dpa