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Warum war der Verdächtige von Aschaffenburg noch frei?

Ausreisepflichtig, gewalttätig und offensichtlich psychisch krank: Viele fragen sich, weshalb der mutmaßliche Angreifer noch in Deutschland und auf freiem Fuß war. Was wir wissen – und was nicht.

Mit Kerzen und Blumen wird an die Opfer erinnert.
Foto: Daniel Vogl/dpa

Ein abzuschiebender, gewalttätiger und offenbar psychisch kranker Flüchtling greift in einem Park in Aschaffenburg eine Kindergartengruppe mit einem Küchenmesser an. Er tötet ein Kleinkind und einen zur Hilfe eilenden Passanten, verletzt weitere Menschen teils schwer. Hätte das verhindert werden können?

Im Verlauf des Bundestagswahlkampfes kritisiert die CSU-geführte bayerische Staatsregierung die mangelnde Entschlossenheit der SPD-geführten Bundesregierung im Umgang mit unerlaubt eingereisten Geflüchteten. Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (beide SPD) weisen darauf hin, dass die bayerischen Behörden Schwierigkeiten haben, geltendes Recht durchzusetzen. Dennoch bleibt die Frage, warum der Mann noch in Deutschland war und sich frei bewegen konnte, unbeantwortet. Die Suche nach Antworten führt zu zahlreichen Behörden.

Warum wurde der Verdächtige nicht abgeschoben?

Bis jetzt hat sich vor allem Bayerns Innenminister Joachim Herrmann zu dieser Frage geäußert. Laut dem CSU-Politiker hätte der Afghane, der Ende 2022 nach Deutschland eingereist ist, bereits im Jahr 2023 nach Bulgarien abgeschoben werden sollen. Das Regelwerk des sogenannten Dublin-Verfahrens sieht vor, dass Asylverfahren in der Regel dort bearbeitet werden, wo Geflüchtete zum ersten Mal EU-Boden betreten.

Gescheitert sei die Abschiebung aber an einer abgelaufenen Frist, sagt Herrmann. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) habe zwar den Afghanen selbst nach Ablehnung seines Asylantrags am 19. Juni 2023 über die angeordnete Abschiebung informiert, die bayerischen Ausländerbehörden aber «aufgrund welcher Fehler und Probleme auch immer» erst am 26. Juli in Kenntnis gesetzt – wenige Tage vor Ablauf der gesetzlichen Frist.

Diese sind für den Vollzug der Abschiebung zuständig, wussten laut Herrmann durch den Verzug aber zu spät davon. So schnell hätten die Behörden eine Abschiebung nach Bulgarien ohne Vorbereitung «offenkundig» dann nicht mehr umsetzen können.

Es wurde aus Regierungskreisen berichtet, dass das Bamf die bayerischen Behörden zwar gleichzeitig mit dem Afghanen vorläufig über die Überstellung nach Bulgarien informiert habe. Der rechtskräftige Bescheid wurde jedoch erst mehr als einen Monat später und somit kurz vor Ablauf der Frist verschickt. Diese Frist endete bereits am 3. Februar 2023. Zu diesem Zeitpunkt hatte Bulgarien der Überstellung des Afghanen nach dem Dublin-Verfahren zugestimmt – jedoch erfolgte dies letztendlich nicht innerhalb von sechs Monaten.

Warum ist der Mann nicht selbst nach Afghanistan ausgereist?

Der 28-Jährige hatte laut Herrmann im Dezember 2024 den Behörden mitgeteilt, dass er die Absicht hatte, nach Afghanistan zurückzukehren – auch schriftlich. Allerdings benötigte er gültige Papiere für die Reise zurück, die er laut Herrmann bis zum Tag des Angriffs in Aschaffenburg nicht vom Generalkonsulat seines Heimatlandes erhalten hatte.

Zur Ausreise verpflichtet war der Afghane auch nur wegen seiner Ankündigung, «schnellstmöglich» in seine Heimat zurückzuwollen. Damit war das beim Bamf nach der gescheiterten Abschiebung laufende Asylverfahren beendet worden. Eine Frist, bis wann der Mann Deutschland nach seiner Ankündigung hätte freiwillig verlassen müssen, gab es laut bayerischem Innenministerium nicht.

War der 28-Jährige Polizei und Justiz schon vor dem Angriff bekannt?

Ja, und zwar aufgrund vieler Vorfälle:

Am 4. März 2023 ereignete sich in einer großen Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge ein Vorfall, der dazu führte, dass der Afghane vom Amtsgericht Schweinfurt einen Strafbefehl wegen Körperverletzung und eine Geldstrafe von 80 Tagessätzen erhielt.

18. Januar 2024: Ein Mann beschädigt angeblich ein Zeiterfassungssystem in einer Flüchtlingsunterkunft. Da er zu den zwei Gerichtsterminen im Jahr 2024 nicht vorgeladen werden kann, wird der Prozess für Februar 2025 geplant.

Am 12. Februar 2024 wurde er beim Fahren mit einem falschen Fahrschein im Zug erwischt. Daraufhin erhielt er später vom Amtsgericht Aschaffenburg einen Strafbefehl wegen versuchten Betrugs und eine Geldstrafe von 15 Tagessätzen.

12. Mai 2024: Nach Angaben der Staatsanwaltschaft Aschaffenburg kommt er an diesem Tag – wohl unter dem Einfluss von Cannabis – auf das Bundespolizeirevier in Aschaffenburg und gibt an, Hilfe zu brauchen. Doch dann kommt es den Angaben zufolge mutmaßlich zu «Tätlichkeiten gegen Beamte», bei denen drei Polizisten verletzt werden.

Am 6. Juni 2024 zieht sich der Mann am Hauptbahnhof in Aschaffenburg vor zwei Polizisten an einem Bahnsteig komplett aus und beschädigt vermutlich einen Streugutbehälter.

Am 2. August 2024 randaliert der Beschuldigte angeblich in Alzenau bei Aschaffenburg und beschädigt ein Auto. Wenn die Polizei eintrifft, schlägt er wiederholt seinen Kopf auf den Boden – und tritt auf dem Weg in die Klinik später angeblich Rettungssanitäter und Polizeibeamte.

Nach Angaben der Staatsanwaltschaft wird er sowohl nach dem Vorfall im Mai 2024 als auch nach dem im August vorübergehend polizeilich in einer Psychiatrie untergebracht. Die Ermittlungen wegen tätlicher Angriffe und Widerstands gegen Polizisten, vorsätzlicher Körperverletzung, Beleidigung und Sachbeschädigung laufen noch.

Das Verfahren wegen der beiden Fälle konnte bisher noch nicht abgeschlossen werden, wie die Staatsanwaltschaft Aschaffenburg mitteilt. Die Ermittler haben ein psychiatrisches Expertengutachten angefordert. Dieser Auftrag wurde jedoch vorübergehend ausgesetzt, da der Mann ohnehin nach Afghanistan zurückkehren möchte.

Laut dem Amtsgericht Schweinfurt wurde der Mann am 18. Januar 2024 auch im Bezirkskrankenhaus Werneck polizeilich untergebracht. Zusätzlich untersucht die Staatsanwaltschaft Aschaffenburg nun die Aussagen einer Zeugin, die besagt, dass der Mann eine Bewohnerin einer Flüchtlingsunterkunft in Alzenau mit einem Messer verletzt haben soll.

Warum wurde er immer wieder aus der Psychiatrie entlassen?

Die Staatsanwaltschaft teilt mit, dass in keiner der Fälle die Bedingungen für eine strafrechtliche einstweilige Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik erfüllt waren – auch nicht für einen Haftbefehl.

Die gesetzlichen Hürden für die zwangsweise Unterbringung in einer Psychiatrie sind hoch. Nur wenn der Betroffene sich selbst oder andere gefährdet und diese Gefahr nicht mit weniger einschneidenden Maßnahmen abgewendet werden kann, ist eine Anordnung zulässig.

Ein milderes Mittel wäre etwa Hilfe durch einen Krisendienst oder einen gesetzlichen Betreuer. Der mutmaßliche Angreifer von Aschaffenburg hatte eine solche Betreuerin im Dezember 2024 gerichtlich verordnet bekommen – aber nie Kontakt zu ihr aufgenommen. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) kündigt nach dem Angriff in Aschaffenburg an, das Bayerische Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz, in dem auch die Bedingungen für eine Unterbringung geregelt sind, «härten» zu wollen.

Hätte er nicht im Gefängnis sitzen müssen?

Mehrere Medien berichten, dass der Mann, weil er die Geldstrafen nicht bezahlte, ersatzweise in Haft hätte gehen sollen. Eine Antwort der Behörden auf diese Frage stand noch aus.

Was passiert jetzt mit dem Mann?

Eine Ermittlungsrichterin hat nach Anhörung eines psychiatrischen Sachverständigen einen Unterbringungsbefehl für den Verdächtigen erlassen. Die Vorwürfe lauten bisher auf zweifachen Mord, zweifachen Mordversuch sowie gefährliche Körperverletzung.

Der Verdächtige ist nun in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht. Ein Unterbringungsbefehl wird in der Regel erlassen, wenn es Hinweise darauf gibt, dass der Verdächtige zum Zeitpunkt der Tat aufgrund einer psychischen Erkrankung schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war.

Falls dies der Fall ist, könnte ein Sicherungsverfahren vor Gericht folgen. Dabei wird ein Beschuldigter zeitlich unbegrenzt in einer geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses untergebracht. Obwohl es keine Anklage wie in einem herkömmlichen Strafverfahren gibt, wird ein solcher Fall vor Gericht verhandelt.

dpa