Die Union kämpft um Vertrauen und Lösungen, nachdem die Richterwahl im Bundestag gescheitert ist.
Fiasko um Richterwahl: Koalition in der Krise
Friedrich Merz hatte geplant, als Bundeskanzler einen neuen, kooperativen Regierungsstil zu etablieren. «Die permanenten öffentlichen Auseinandersetzungen der Vergangenheit, die müssen wir beenden», hatte er sich vor der Bundestagswahl vorgenommen. Seit der geplatzten Wahl dreier Verfassungsrichter am Freitag im Bundestag steht fest, dass er mit diesem Anspruch vorerst gescheitert ist. Nach gut zwei Monaten im Amt zofft sich die schwarz-rote Koalition in unrühmlicher Ampel-Manier.
Die Union setzt nach dem Fiasko nun erst einmal darauf, die aufgeheizte Debatte um die SPD-Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf abzukühlen, die sie vor allem wegen deren Haltung zu Abtreibungen ablehnt. «Jetzt sollten erstmal alle etwas runterkommen und dann besprechen wir in Ruhe mit der SPD das weitere Verfahren», sagt der Parlamentarische Geschäftsführer Steffen Bilger (CDU). Am 10. September kommt der Bundestag zu seiner nächsten regulären Sitzung zusammen. Spätestens bis dann sollte eine Lösung gefunden sein.
Es geht um viel bei der Suche danach. Nicht nur der Koalitionsfrieden steht auf dem Spiel, sondern auch das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts, die Handlungsfähigkeit des Bundestags und das politische Schicksal eines führenden Koalitionspolitikers. Was bedeutet das im Detail?
Wiederherstellung des Koalitionsfriedens
Wenn ein Koalitionspartner dem anderen öffentlich Führungsversagen vorwirft, bedeutet das Alarmstufe Rot für ein Regierungsbündnis. Genau das hat der Vizekanzler und SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil am Freitag vom Rednerpult im Bundestag getan. Führung und Verantwortung seien «nichts für Sonntagsreden», sagte er kurz nach der geplatzten Richterwahl. «Sondern wenn hier strittige Abstimmungen sind, dann muss es Führung und Verantwortung auch geben. Und das muss gezeigt werden.»
Die Suche nach einer einvernehmlichen Lösung wird nun zur ersten großen Bewährungsprobe der noch jungen Koalition. Vor allem muss verlorenes Vertrauen wiederhergestellt werden, nachdem die Unionsführung ihre Zusage, die SPD-Kandidatin Brosius-Gersdorf mitzuwählen, nicht einhalten konnte.
Politische Zukunft von Unionsfraktionschef Spahn
Der Unionsfraktionsvorsitzende wird von allen Seiten als Hauptverantwortlicher für das Fiasko angesehen. Jens Spahn, dem bisher ein Gespür für konservative Reflexe in der Union nachgesagt wurde, hat den Widerstand in der Union gegen Brosius-Gersdorf unterschätzt.
Der ehemalige Gesundheitsminister konnte in der Maskenaffäre weiterhin auf die Unterstützung in den eigenen Reihen zählen. Die Angriffe der Opposition gegen ihn wurden einstimmig als Kampagne betrachtet.
Nach der Richterwahl sprang ihm am Freitag und am Wochenende aber zunächst kaum jemand zur Seite. Selbst die einsame Solidaritätsbekundung des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Hendrik Wüst, Vorsitzender von Spahns CDU-Landesverband, klang etwas halbherzig: «Es spricht aber für Jens Spahns Charakter, dass er offensiv damit umgeht und nach Lösungen sucht», sagte Wüst. «Jens hat Demut gezeigt und Verantwortung übernommen. Auch das ist politische Führung.» Öffentlich geäußert hat sich Spahn selbst noch nicht.
Ansehen des Bundesverfassungsgerichts
Viele halten das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts schon jetzt für beschädigt. So warf SPD-Fraktionschef Matthias Miersch der Union gar «die bewusste Demontage unseres höchsten deutschen Gerichts und unserer demokratischen Institutionen» vor. CSU-Innenminister Alexander Dobrindt sieht das anders. «Alles, was nicht zu einem ganz bestimmten Ergebnis führt, ist automatisch eine Beschädigung des Bundesverfassungsgerichts: Dieser Sichtweise kann ich mich nicht anschließen.»
Bisher wurden Richterposten in der Regel zwischen den großen Parteien geräuschlos besetzt. Es handelt sich um das höchste deutsche Gericht, wo Richter unabhängig Entscheidungen von Regierung und Parlament auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfen sollen. Offener politischer Streit über die Besetzung von Richterposten passt nicht dazu.
Handlungsfähigkeit des Bundestags
Schlussendlich dreht sich die Suche nach einer Lösung auch um die grundlegende Frage, wie handlungsfähig der Bundestag in seiner aktuellen Zusammensetzung noch ist, in der die sogenannten Parteien der Mitte – also CDU/CSU, SPD und Grüne – keine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit mehr haben.
Falls es im Bundestag zu keiner Einigung über die Richter-Nachbesetzungen kommt, wird die Entscheidung an den Bundesrat weitergeleitet. Dies würde bedeuten, dass das Parlament nicht mehr voll handlungsfähig ist.
Es gibt jetzt vier mögliche Szenarien bei der Suche nach einer Lösung:
Szenario 1: Die SPD zieht ihren Vorschlag zurück
Dieses Szenario wäre der Union am liebsten: Die SPD macht den Weg frei für die Suche nach einer neuen Kandidatin oder einem neuen Kandidaten. Die Sozialdemokraten haben schon deutlich gemacht, dass das nicht in Frage kommt. Sie loben die Potsdamer Staatsrechtlerin Brosius-Gersdorf als «eine hochangesehene Juristin, die fachlich über jeden Zweifel erhaben ist», wie der parlamentarische Geschäftsführer Dirk Wiese es sagte. Die Vorwürfe gegen die Professorin sehen sie als eine «Hetzkampagne».
Szenario 2: Brosius-Gersdorf wirft hin
Die SPD gab an, dass die Anfeindungen gegen Brosius-Gersdorf im Netz bis hin zu Morddrohungen gingen. Aus Selbstschutz könnte die Potsdamer Staatsrechtlerin daher am Ende einen Rückzug erwägen. Doch letztendlich würden vor allem diejenigen gewinnen, die sie angefeindet haben.
Szenario 3: Die Union schließt doch noch die Reihen
Das ist das Szenario, das die SPD sich erhofft. Es wurde vorgeschlagen, dass sich Brosius-Gersdorf in der Unionsfraktion vorstellt, um Bedenken auszuräumen. Es wird geschätzt, dass etwa 60 der 208 CDU/CSU-Abgeordneten gegen sie sind. Das Problem bei diesem Szenario: Die Richter werden in geheimer Abstimmung gewählt. Niemand kann garantieren, dass genügend Unionsleute mitziehen.
Szenario 4: Der Bundesrat entscheidet
Falls der Bundestag keine Lösung findet, kann die Entscheidung nach bestimmten Fristen an den Bundesrat übergehen. Doch auch dort wird eine Zweidrittelmehrheit benötigt. Daher ist auch dort die Entscheidungsfindung nicht unbedingt einfacher.