Nach nicht einmal 100 Tagen brauchen viele in Union und SPD schon eine Pause voneinander. Das Kanzleramt verweist auf eine positive Bilanz. Rauft die Koalition sich nach der Sommerpause zusammen?
Was Schwarz-Rot von der Ampel unterscheidet – oder was nicht

Sie haben sich vorgenommen, es anders zu machen, um es besser zu machen. Besser als die gescheiterte Vorgängerkoalition, die Ampel, die Deutschland nach drei Jahren Streit tief verunsichert zurückließ. Aufbruch, Stimmungswandel, das ist die Parole von Schwarz-Rot. Doch nach nur 100 Tagen muss sich die Koalition von Kanzler Friedrich Merz (CDU) die Frage stellen: Streiten wir schon genauso wie die Ampel?
100-Tage-Note
100 Tage, diese Frist hat der frühere US-Präsident Franklin D. Roosevelt als Maßstab für gutes Regieren eingeführt. Bis heute müssen sich Politikerinnen und Politiker daran messen lassen. Für die Bundesregierung fällt das Zeugnis schlecht aus, wenn es nach den Umfragen geht. Nur noch 29 Prozent sind laut «Deutschlandtrend» der ARD zufrieden mit Schwarz-Rot, es ist der schlechteste Wert seit Amtsantritt der Regierung. Auch Merz selbst büßt an Vertrauen ein.
Für manche fühlen sich die 100 Tage in Berlin schon an wie drei Jahre. Genauer: drei Ampel-Jahre. Man ist müde. Man ist mit Groll in die Sommerpause gegangen. Union und SPD brauchten dringend eine Pause voneinander. Den Vergleich zur Ampel will Vizekanzler Lars Klingbeil trotzdem noch nicht ziehen. Von diesen Zeiten sei man «sehr weit entfernt», sagt er der «Rheinischen Post». Doch man merkt dem SPD-Chef an: Regieren macht gerade nicht so viel Spaß.
Wo es gut lief
Es hat eigentlich gut begonnen – abgesehen von der erst im zweiten Anlauf erfolgreichen Kanzlerwahl. Merz genießt den großen Auftritt in der Außenpolitik: Das Treffen mit US-Präsident Donald Trump im Weißen Haus? Erfolgreich. Der Nato-Gipfel? Ebenso. Europa? Alles in Ordnung – obwohl sich die Beziehungen zu Polen und Frankreich bereits wieder spürbar abkühlen.
Dazu kommt eine ganze Palette von Gesetzen: «Wachstumsbooster», Haushalt, Rentenpaket, «Bauturbo», Migrationspolitik. Schon vor der Kanzlerwahl war ein Aufweichen der Schuldenbremse unter Dach und Fach. Ein hohes Tempo, bilanziert Kanzleramtsminister Thorsten Frei (CDU) in der «Zeit»: «Die politische Gesamtbilanz der ersten drei Monate ist absolut positiv.»
Wo es schlecht lief
Zwei Themen hängen jedoch wie Mehltau über Schwarz-Rot – und sie stellen die Frage, ob Merz die Innenpolitik unterschätzt hat und zu viel hat laufen lassen.
Der erste Ampel-Moment: die Stromsteuer. Obwohl im Kabinett beschlossen wurde, dass diese nicht für alle Bürger gesenkt wird, gab es heftigen Protest aus der Union, als Klingbeil dies öffentlich machte. Die Ministerpräsidenten Hendrik Wüst (NRW, CDU) und Markus Söder (Bayern, CSU) sowie CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann übten Druck aus.
Die SPD könnte sich daran erinnert haben, wie die FDP in der Ampel-Koalition Kabinettsbeschlüsse immer wieder sofort in Frage stellte.
Ampel-Moment zwei: Die missglückte Wahl neuer Richter für das Bundesverfassungsgericht. Das Problem, dass die Union die SPD-Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf nicht mittragen wollte, blieb vor der Sommerpause ungelöst. Die Koalition nicht fähig zum Kompromiss. Schwarz-Rot habe sich «selbst beschädigt», bescheinigte sogar Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Sommerinterview der ZDF-Sendung «Berlin direkt».
Schließlich entschied sich Brosius-Gersdorf zurückzuziehen, um eine weitere Eskalation und Schädigung der Demokratie zu verhindern. Das Hauptproblem besteht weiterhin: Die SPD hat im Interesse der Koalition Zugeständnisse gemacht, zum Beispiel beim Familiennachzug für Geflüchtete. Die Union war dazu nicht bereit, so Brosius-Gersdorf.
SPD-Chefin Bärbel Bas sieht noch deutlichen Gesprächsbedarf mit der Union, das macht sie im ARD-«Bericht aus Berlin» klar. Das Verhalten des Koalitionspartners sei «für mich auch keine Kleinigkeit und das ist auch noch nicht geklärt» – in der SPD seien Wunden geblieben. Das Vertrauen zu Unionsfraktionschef Jens Spahn (CDU) sei angeschlagen, die SPD könne nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.
Es ist unklar, ob Schwarz-Rot den Richterstreit vor der nächsten Wahlrunde im September im Bundestag in Karlsruhe lösen kann. Es wäre katastrophal, wenn auch ein neuer Wahlgang scheitern würde.
Atmosphärische Störungen
Beide Beispiele verdeutlichen, dass die früher geltende Koalitionsdisziplin aus dem Ruder gelaufen ist. Schwarz-Rot ist wie ein vielfältiges Orchester. Besorgniserregend ist es, wenn gerade die prominenten Köpfe aus der Reihe tanzen, die eigentlich den Laden zusammenhalten und tragen sollen.
Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) fordert, dass die Menschen länger arbeiten sollten. Merz war von dieser Idee nicht begeistert. Ebenso wie CSU-Chef Söder, der vorgeschlagen hat, das Bürgergeld für ukrainische Flüchtlinge zu streichen. Viele Vorschläge gehen über den Koalitionsvertrag hinaus und provozieren den Koalitionspartner. Selbst bei kleinen Fragen gerät man an den Rand des Zusammenbruchs. Im Bundestag applaudieren SPD, Grüne und Linke bereits wieder gemeinsam.
Die Spitze
Der Kanzler hat bereits eingeräumt, dass nicht alles glatt gelaufen ist. «Wir müssen etwas nachjustieren, und das tun wir auch», hat er versprochen. Klingbeil und er, die Spitzen der Koalition, scheinen ein belastbares Verhältnis zu haben. Die beiden hoch gewachsenen Männer können auf Augenhöhe miteinander reden, seit den Koalitionsverhandlungen sind sie per Du. In der SPD, so heißt es, habe man sich einen Kanzler Merz viel schlimmer vorgestellt.
Die Mühen der Ebene
Jenseits der Chefebene aber scheint ein gemeinsamer Geist häufig zu fehlen. Der Ton, in dem Abgeordnete beider Fraktionen übereinander reden, ist längst nicht immer höflich. In der SPD etwa gibt es seit dem Richterstreit großes Misstrauen gegenüber Unionsfraktionschef Spahn, der es nicht schaffte, seine Fraktion hinter einer vorab gefällten Entscheidung zu versammeln. «Wenn wir Absprachen treffen, dann müssen die gelten. Darauf müssen wir uns als SPD verlassen können», mahnte Klingbeil neulich.
Merz dürfte Spahn auch für die Fraktionsspitze vorgeschlagen haben, weil er ihm zugetraut hat, die Unionsabgeordneten hinter der Regierungslinie zu vereinen. Doch im Richterstreit war der Münsterländer nicht stark genug. Er konnte die mit dem Koalitionspartner verabredete Unterstützung für die SPD-Kandidatin nicht garantieren. Schmerzhaft mussten Spahn und Merz feststellen: Die Unionsfraktion ist schon längst kein «Kanzlerwahlverein» mehr wie zu Zeiten von Helmut Kohl oder Angela Merkel.
Unionsfraktion kein Kanzlerwahlverein mehr
Ein aktuelles Beispiel: Merz‘ Entscheidung für einen Teilstopp der Waffenexporte nach Israel. Ohne Absprache mit der Unionsfraktion und der CSU verkündete der Kanzler seinen Beschluss am Freitag durch eine knappe Presseerklärung. Diesmal erhielt Merz Unterstützung von der SPD – dort wird das gewaltsame Vorgehen Israels im Gazastreifen schon lange kritisch betrachtet.
Jedoch gab es Kritik aus der Union, die CSU fühlte sich übergangen. Der Kanzler sah sich gezwungen, seine Politik zwei Tage später öffentlich im Fernsehen zu erklären.
In der CDU wird hinter vorgehaltener Hand gesagt, dass nach Brosius-Gersdorf dies der nächste Fall sei, bei dem Merz und dem Kanzleramt jedes Radarsystem für die Stimmung in der Unionsfraktion verpasst haben. Für Schwarz-Grün bedeutet das vor allem eines: unruhige Zeiten auch in der Zukunft.
Probleme von ganz anderem Kaliber
Denn in den kommenden Monaten haben Union und SPD noch mit weitaus größeren Problemen zu kämpfen als der Ernennung von Verfassungsrichtern. Sie benötigen dringend Geld. In der Finanzplanung klafft zwischen 2027 und 2029 eine Lücke von etwa 172 Milliarden Euro. Allein im Haushalt 2027 müssen 34 Milliarden Euro eingespart werden. Die Ampel-Koalition ist gerade einmal an einem Zehntel gescheitert.
Vor allem die Union hofft darauf, dass die Wirtschaft in Schwung kommt und Steuereinnahmen generiert. Allerdings handelt es sich dabei um eine riskante Wette – und bislang gibt es kaum Hinweise darauf, dass sie erfolgreich sein könnte. Eine Alternative wäre das Sparen. Dies wird jedoch wahrscheinlich nur mit Reformen der Sozialsysteme funktionieren, die für die SPD schmerzhaft sein dürften.
Als wäre das nicht Druck genug, werfen gleich fünf Landtagswahlen im Jahr 2026 ihre Schatten voraus – darunter die in Sachsen-Anhalt mit einer enorm starken AfD. Nicht umsonst hat CSU-Chef Söder die schwarz-rote Koalition schon als «letzte Patrone der Demokratie» bezeichnet.