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Chicago: Angst vor ICE-Razzien wächst in Little Village

Das Weiße Haus inszeniert medienwirksam Einsätze. Chicago klärt Betroffene über ihre Rechte auf, trotz drohender Abschiebungen.

Chicago hat sich auf Trumps zweite Amtszeit mit einer umfassenden Informationskampagne vorbereitet.
Foto: Luzia Geier/dpa

«¡Conozca sus derechos!» – «Kennen Sie Ihre Rechte!» steht auf Zetteln, die an Laternenmasten in Little Village in Chicago kleben. Sie erklären, was zu tun ist, wenn Beamte der US-Polizei- und Einwanderungsbehörde (ICE) vor der Tür stehen: kein Zutritt ohne richterlichen Beschluss. Schweigen. Filmen. Nichts unterschreiben. 

Das Viertel ist das Zentrum der mexikanisch-stämmigen Gemeinde in der Millionenstadt im Bundesstaat Illinois. Obwohl bisher keine großangelegten Razzien stattgefunden haben, ist die Angst seit der Amtseinführung von US-Präsident Donald Trump an Orten wie diesem spürbar. Viele befürchten, dass die Regierung nur Zeit benötigt, um die im Wahlkampf angekündigten Massenabschiebungen vorzubereiten. In der Zwischenzeit inszeniert das Weiße Haus medienwirksam einzelne Einsätze.

Eine Verkäuferin, die anonym bleiben möchte, lebt seit 37 Jahren ohne Aufenthaltserlaubnis in Chicago. Sie hat vier Kinder, sieben Enkelkinder – und jeden Tag Angst, auf dem Weg zur Arbeit von ICE gestoppt zu werden. Viele Kunden haben ähnliche Erfahrungen, sagt sie. Diejenigen, die können, bleiben derzeit zu Hause.

Unverzichtbar – und unerwünscht

Ungefähr elf Millionen Menschen leben in den USA ohne gültige Papiere, ähnlich wie sie. Viele von ihnen arbeiten in der Landwirtschaft oder Gastronomie und zahlen sogar Steuern. Dies wird durch eine bürokratische Besonderheit ermöglicht. Frühere US-Regierungen haben zwar auch Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis abgeschoben, jedoch lag der Schwerpunkt in der Regel auf Straftätern.

Trump verschärft seinen Kurs: Der Republikaner bezeichnet Migranten aus ärmeren Ländern pauschal als Kriminelle. Seine Regierung argumentiert, dass Menschen bereits durch den illegalen Aufenthalt in diese Kategorie fallen und daher schnellstmöglich abgeschoben werden müssen. Kaum im Amt angekommen, wies Trump ICE an, Razzien auch in Schulen, Krankenhäusern und Kirchen durchzuführen – ein drastischer Bruch mit langjähriger Praxis.

Ein besonderer Dorn im Auge sind ihm «Sanctuary Cities», also Städte, die sich auf unterschiedliche Weise weigern, mit ICE zu kooperieren. Chicago verfolgt diese Politik bereits seit den 1980er Jahren und gibt zum Beispiel keine migrationsbezogenen Daten an ICE weiter. Die Idee dahinter: Wer fürchten muss, dass jede Kontrolle zur Abschiebung führt, meldet Straftaten vielleicht nicht der Polizei – was die öffentliche Sicherheit gefährdet.

Schutz oder Rechtsbruch?

Chicago reagiert auf Trumps zweite Amtszeit mit entschlossener Trotz. Eine Informationskampagne informiert Betroffene in verschiedenen Sprachen über ihre Rechte – nicht nur in Vierteln wie Little Village, sondern in der gesamten Stadt, auf Bildschirmen in Bussen und Bahnen.

Tom Homan – der Mann, der Trumps Abschiebepolitik durchsetzen soll – war darüber sichtlich verärgert. Chicago sei «hervorragend instruiert», sagte er Ende Januar bei CNN. Kurz darauf reichte das Justizministerium Klage gegen die Stadt ein, mit dem Vorwurf, sie behindere die Durchsetzung von Bundesrecht. Auch Illinois und New York wurden ins Visier genommen. Chicagos Bürgermeister Brandon Johnson betonte: Die Stadt werde an ihren Werten festhalten.

Glaube statt Nullsummenspiel

Am Eingang der Augustana Lutheran Church im Süden Chicagos sind diese Werte ausformuliert: «Kirchen sind Orte der Zuflucht», steht dort. Ohne richterlichen Beschluss muss ICE es hier gar nicht erst versuchen. Für Pastorin Nancy Goede ist das eine Glaubensfrage. 

Sie sagt, dass Konservative in den USA Religion für politische Zwecke missbrauchten und die Welt als Nullsummenspiel darstellten. Trotzdem lehre das Christentum, dass mehr für alle da sei, wenn Menschen nicht gegeneinander aufgebracht würden.

Ein deutsches Vorbild für Chicago

In der Kirche hat das «Hyde Park Refugee Project» sein Zuhause. Gründerin Dorothy Pytel fand die Inspiration dazu im deutschen Hannover. Vor rund zehn Jahren saß sie dort auf dem Balkon ihrer Schwägerin, las beim Frühstücksbrötchen über ein Flüchtlingsprojekt in Bayern und fragte sich: warum nicht auch in Chicago? Ihr ursprüngliches Ziel war es, wenigen Familien nachhaltig die Integration zu erleichtern.

Doch als 2023 mit dem Ende pandemiebedingter Beschränkungen die Zahl der Migranten rasant anstieg, wurde aus der langfristigen Vision plötzlich akute Nothilfe. Unterkünfte waren überfüllt, viele Menschen strandeten vor Polizeiwachen. Die Gemeinschaft reagierte, erzählt Pytel. Freiwillige organisierten sich über WhatsApp und halfen, wo sie konnten.

Die Willkommenskultur blieb nicht ungetrübt. Besonders in ärmeren Vierteln kam es zu Spannungen. «Es gab echten Unmut», erinnert sich Pytel. Ihrer Meinung nach war dies weniger Ausdruck von Feindseligkeit als das Ergebnis tief sitzender Frustration. Manche Einheimische fühlen sich von der Politik übergangen. Das bleibt ein Reibungspunkt, auch wenn die Stadt einige Abläufe verbessert hat.

Begegnungen im «Free Store»

Pastor Jonathan kennt diese Konflikte. Er bittet darum, seinen Nachnamen und den Namen der Kirche nicht zu nennen, in deren Keller er einen «Free Store» eingerichtet hat – eine wöchentliche Anlaufstelle für kostenlose Kleidung und Haushaltswaren. Jeden Donnerstag kommen Dutzende Menschen.

Der Pastor und sein Freiwilligenteam bieten neben Sachspenden praktische Hilfe an, insbesondere bei Asylverfahren. Viele Klienten, wie er sie nennt, kommen aus Kolumbien, Mexiko, dem Kongo und Sierra Leone. Besonders bewegt hat ihn die Geschichte eines jungen Paares aus Venezuela, das vorübergehend bei ihm Zuflucht suchte. Auf der gefährlichen Flucht nach Norden verstarb ihr Baby.

Der Gratis-Laden ist ein Ort, an dem Menschen verschiedenster Herkunft Unterstützung finden, berichtet Jonathan. Auch viele Einheimische machen von dem Angebot Gebrauch. Dadurch werden Verbindungen geschaffen: Eine Frau aus der Umgebung kam zuerst als Kundin, dann als Freiwillige. Heute arbeitet sie an der Rezeption und baut Freundschaften mit den hauptsächlich lateinamerikanischen Frauen auf, die neu in der Stadt sind.

Der Laden bleibt offen – trotz Angst

Mit der Rückkehr Trumps machte sich Unsicherheit breit – selbst bei jenen, die eigentlich keinen Grund zur Sorge haben müssen. «Soll der Laden offen bleiben? Wie können wir unsere Leute schützen?», fragte sich Jonathan. Schnell sei klar gewesen: «Wir lassen uns nicht von der Angst lähmen.» Am ersten Donnerstag nach Amtsantritt des Republikaners war der Laden wieder voll.

Veränderungen gab es durchaus: Die Kirchentür bleibt nun routinemäßig abgeschlossen. Sollte ICE anklopfen, wissen die Freiwilligen, was zu tun ist. Für den Pastor zählt aber etwas anderes. «Die Menschen trinken Kaffee, lernen Englisch, bringen ihre Kinder mit, suchen Kleidung und Dinge für ihr Zuhause aus. All das hat Wert», sagt er. «Gerade jetzt muss man seinen Werten treu bleiben. Es hilft, von Leuten umgeben zu sein, die das genauso sehen.»

dpa