Am 9. April 2025 verhandelte der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Verfahren C‑440/23 über die Frage, ob das deutsche Verbot ausländischer Online‑Casino‑Anbieter vor Einführung des Glücksspielstaatsvertrags am 1. Juli 2021 gegen die EU‑Dienstleistungsfreiheit (Artikel 56 AEUV) verstoßen hat.
Welche Folgen das EuGH-Urteil zur Dienstleistungsfreiheit im Online‑Glücksspiel hat
Das Ergebnis könnte nicht nur rückwirkende Ansprüche von Spielerinnen und Spielern auslösen, sondern den künftigen Wettbewerb auf dem deutschen Markt grundlegend verändern. Während Branche und Politik auf ein wegweisendes Urteil warten, bereiten sich Gerichte darauf vor, die EuGH‑Auslegung anzuwenden.
Die EU‑Dienstleistungsfreiheit und ihr Anwendungsbereich
Artikel 56 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union schützt das Recht von Unternehmen, ihre Dienstleistungen in anderen Mitgliedstaaten anzubieten. Diese Freiheit soll den Binnenmarkt stärken, indem sie grenzüberschreitende Hindernisse abbaut.
Im Bereich des Online‑Glücksspiels gilt: Ein Anbieter mit gültiger Lizenz in einem Mitgliedstaat darf grundsätzlich auch in anderen Staaten tätig werden, sofern kein zwingender Grund des Allgemeininteresses—etwa Spielerschutz oder Betrugsprävention—eine Beschränkung rechtfertigt.
Die nationale Regulierung vor 2021
Bis zum 30. Juni 2021 war das Anbieten von Online‑Casino‑Spielen ohne deutsche Lizenz in Deutschland verboten. Anbieter aus EU‑Staaten wie Malta operierten dennoch auf dem deutschen Markt, indem sie sich auf ihre inländischen EU‑Lizenzen beriefen. Vor Inkrafttreten des Glücksspielstaatsvertrags gab es weder einen transparenten noch rechtssicheren deutschen Lizenzrahmen, was zu widersprüchlichen Urteilen führte.
Vergleichsportale wie Bikesale entstanden, um Interessierten Anbieter zusammenzustellen, die ohne deutsche Lizenz operieren. So können auf der Plattform Nutzer auf einen Blick sehen, bei welchen Plattformen sie ohne Casino Lizenz spielen können und welche Auflagen dort gelten.
Das Verfahren C‑440/23
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat im Rahmen des Verfahrens C‑440/23 den EuGH um eine Auslegung von Artikel 56 AEUV gebeten. Im Zentrum steht die Frage, ob Deutschland verpflichtet war, ausländische Lizenzen anzuerkennen, und ob das generelle Verbot ausländischer Online‑Casino‑Angebote eine unverhältnismäßige Beschränkung darstellte.
Das Ergebnis soll klären, ob in der Zeit vor Juli 2021 inländische Lizenzbestimmungen einen zulässigen Schutz standardisierten oder eine Diskriminierung gegenüber EU‑basierten Anbietern bedeuteten.
Argumente der Glücksspielanbieter
Betroffene Online‑Casino‑Betreiber argumentieren, sie hätten vor 2021 keine Möglichkeit gehabt, eine deutsche Lizenz zu beantragen – entsprechende Antragsverfahren fehlten schlicht. Viele Anbieter hätten bereits in ihren Heimatstaaten strenge Regularien erfüllt, Steuern gezahlt und technische Maßnahmen zu Spielerschutz und Suchtprävention implementiert.
Ihrer Ansicht nach habe Deutschland durch das Verbot den freien Verkehr von Dienstleistungen unzulässig behindert und Wettbewerbsnachteile geschaffen. Ein positives EuGH‑Urteil könnte ihre Geschäftsmodelle nachträglich legitimieren und rechtliche Unsicherheit beseitigen.
Standpunkt des Bundesgerichtshofs
Der BGH hat bislang entschieden, dass Deutschland ausländische Online‑Glücksspielanbieter nicht zuzulassen brauche. Er hat den Glücksspielstaatsvertrag 2021 als hinreichenden Schutzrahmen gewertet und in seiner Entscheidung vom 23. Januar 2025 klargestellt, dass anhängige Verfahren gegen EU‑lizenzierte Betreiber nicht bis zum EuGH‑Urteil auszusetzen seien.
Nach Auffassung der Richter bietet der nationale Vertrag klare Regelungen zu Lizenzvergabe, Werbebeschränkungen und Suchtprävention, die Vorrang vor einer vorläufigen Markteröffnung haben.
Verlauf der mündlichen Verhandlung
Die öffentliche Anhörung vor dem EuGH am 9. April 2025 erstreckte sich über mehrere Stunden und bot einen tiefen Einblick in die komplexen rechtlichen wie technischen Aspekte des Online‑Glücksspiels.
Auf Seiten der Kläger schilderten die Vertreter der maltesischen Anbieter detailliert, wie ihre Plattformen Spielerschutzmaßnahmen umsetzen – von Einsatzlimits über Selbstausschlussfunktionen bis hin zu automatisierten Altersscreenings.
Die Bundesregierung und das deutsche Bundesministerium der Justiz wiesen demgegenüber auf die lückenhafte Kontrolle hin, die vor Einführung des Glücksspielstaatsvertrags 2021 geherrscht habe. Ergänzend trugen Verbraucherschutzorganisationen Erfahrungsberichte betroffener Spieler vor, in denen mangelnde Transparenz und unzureichende Suchtprävention beklagt wurden.
Richterfragen zielten darauf ab, wie die verlangten nationalen Vorgaben im Vergleich zu den technischen und organisatorischen Maßnahmen der ausländischen Anbieter tatsächlich gewirkt hätten und welche konkreten Risiken für vulnerable Gruppen bestanden.
Rolle des Generalanwalts
Der Generalanwalt nimmt im Vorfeld des EuGH-Urteils eine Scharnierfunktion ein: Er wertet die vorgelegten Schriftsätze, Protokolle und Interventionen der Prozessparteien aus und formuliert daraus eine rechtliche Einschätzung in seinen Schlussanträgen.
Diese – wenngleich nicht bindenden – Schlussanträge werden in der Regel mehrere Monate nach der Verhandlung veröffentlicht; für C‑440/23 ist dies bis zum 10. Juli 2025 geplant. Sie behandeln systematisch, ob das Verbot ausländischer Online-Casinos vor Juli 2021 verhältnismäßig, transparent und gesetzlich hinreichend begründet war, und vergleichen dabei nationale Regelwerke mit der europäischen Dienstleistungsfreiheit.
Ferner beleuchten sie, ob technische Kontrollinstrumente wie zentrale Spielerdatenbanken oder Präventionsprogramme in Malta und anderen Staaten den deutschen Anforderungen gleichwertig entsprachen.
Ausblick auf das Urteil
Nach Vorlage der Schlussanträge des Generalanwalts beginnt die Beratungsphase beim EuGH, die üblicherweise sechs bis zwölf Monate dauert. Mit einer Urteilsverkündung ist daher frühestens im Spätsommer 2025 zu rechnen.
Die Entscheidung wird als Präzedenzfall in ganz Europa gelten: Bestätigt der Gerichtshof, dass Deutschland vor 2021 die Dienstleistungsfreiheit in unzulässiger Weise beschränkt hat, dürfte dies zu einer Welle von Rückforderungsprozessen durch deutsche Spieler führen und den Markteintritt weiterer EU‑Lizenznehmer beflügeln.
Hält der EuGH hingegen am nationalen Schutzkonzept fest, stärkt er das Modell strenger Glücksspielregulierung und setzt klare Leitlinien für Ausnahmeregelungen im Interesse des Jugend‑ und Verbraucherschutzes. Unabhängig vom Ausgang muss sich die Branche auf eine neue Rechtssicherheit einstellen und nationale Gesetzgeber werden die Entscheidung in ihre künftigen Regelwerke einarbeiten.
Das Verfahren C‑440/23 wird zur Grundsatzentscheidung, die das Gleichgewicht zwischen Binnenmarktfreiheit und Verbraucherschutz im Online‑Glücksspiel neu auslotet. Erkennt der EuGH das deutsche Verbot der Auslandsanbieter als unverhältnismäßig an, könnten betroffene Spieler umfangreiche Rückforderungsansprüche stellen und der Markt sich für neue Anbieter öffnen. Hält der EuGH indes an der Notwendigkeit strenger nationaler Regulierung fest, stärkt er den Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten. In jedem Fall wird das Urteil deutliche Auswirkungen auf die Ausgestaltung digitaler Regulierungsmodelle in Europa haben.