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England und die Elfmeter: Üben und nicht darüber reden

Bislang konnte sich das minimalistische England ganz gut durch die EM mogeln. An dem Ort, an den Fans keine guten Erinnerungen haben, wird dies nun anders. Eine Szene zeigt die ganze Nervosität.

Selten war die Kritik an Gareth Southgate so laut wie in den vergangenen Tagen.
Foto: Adam Davy/PA Wire/dpa

Jedes Jahr aufs Neue – das ist für Englands Fußballer keine erfreuliche Nachricht. Nachdem sie sich für die K.o.-Runde der EM qualifiziert haben, steht dem Fußball-Mutterland erneut das gefürchtete Elfmeterschießen bevor, das sie in der Vergangenheit oft vor wichtigen Turnieren aus dem Rennen warf. Harry Kane und seine Teamkollegen üben und simulieren in Zusatzschichten – oft nach den regulären Trainingseinheiten – im sonnigen Blankenhain den Ernstfall vom Punkt vor dem Achtelfinale am Sonntag gegen die Slowakei (18.00 Uhr/ZDF und MagentaTV).

«Wir investieren sehr viel Arbeit dafür. Es lief richtig gut bei den Elfmetern im Training. Und es ist wichtig, dass wir sicherstellen, dass wir für den Fall der Fälle bereit sind», sagte Abwehrspieler Marc Guehi. Als ein weiterer Journalist zu den Details und der Häufigkeit der Übungen nachhakte, zeigte sich aber die ganze Nervosität im englischen Lager.

Profi soll keine weiteren Fragen dazu beantworten

«Tut mir leid, ich werde mich da einmischen. Ich möchte keinen Wettbewerbsvorteil verschenken», sagte Kommunikationschef Andy Walker und unterband eine Antwort des Profis von Crystal Palace. Walker rief unmittelbar den nächsten Reporter auf. Der ausgebremste Guehi grinste einigermaßen verlegen.

Kollege in der Abwehr, Kieran Trippier, hat bereits das Prozedere unter Cheftrainer Gareth Southgate beschrieben. Spieler werden ausgewählt, um jeweils drei Strafstöße zu schießen – diese werden dann analysiert. Die Three Lions und der oft kritisierte Southgate hatten vor der Rückkehr nach Gelsenkirchen, wo tausende Fans nach dem 1:0 gegen Serbien zum EM-Auftakt ein Transportchaos erlebten, viel zu tun.

Witze über die furchtbare Bilanz

In der turbulenten EM-Vorrunde mit nur zwei Toren fehlte es an Esprit, Ideen und Tempo. Trotzdem ist die zusätzliche Arbeit für Elfmeter unerlässlich. Die Geschichte lastet zu schwer, da England seit der WM 1998 bei wichtigen Turnieren nur einmal als Sieger aus dem Nervenspiel hervorgegangen ist.

Southgate hat in seinen knapp acht Jahren als Chefcoach bereits verschiedene Dinge ausprobiert. Vor der WM 2018 machten Trainer und Spieler Witze über die vielen Elfmeter-Niederlagen, an denen Southgate als Spieler beteiligt war. Im Halbfinale der EM 1996 gegen Deutschland verschoss der jetzige Nationaltrainer selbst den entscheidenden Elfmeter. Seine Maßnahmen schienen zunächst zu funktionieren, da bei der WM 2018 tatsächlich ein Erfolg im Elfmeterschießen gegen Kolumbien erzielt wurde.

Nun wartet wieder Gelsenkirchen. Vor zwei Wochen haben weder die Fans noch die Journalisten besonders positive Erfahrungen mit der Heimat des FC Schalke 04 gemacht. Die Anhänger warteten mitten in der Nacht stundenlang auf überfüllten Bahnsteigen. Die Vor-Ort-Reporter echauffierten sich über den tristen Ort, den ein Blogger als «absolutes Drecksloch» bezeichnete. Und auch für die Three Lions ist Gelsenkirchen berüchtigt. Schließlich verlor man dort 2006 das WM-Viertelfinale gegen Portugal – selbstredend im Elfmeterschießen.

Elfmeter-Thematik füllt ganze Bücher

Das bei Fans beliebte Nervenspiel nach 120 Minuten ist ein riesiges Thema in England. Der «Telegraph» analysierte vor dem Wochenende die englischen Schützen und teilte diese je nach Häufigkeit und Trefferquote in Gruppen ein. Kapitän Kane, Flügelspieler Bukayo Saka und Reservist Ivan Toney gelten als besonders sichere Anwärter. Doch angesichts von fünf Wechselmöglichkeiten ist fraglich, wer dann von der Startelf, zu der Kane und Saka zählen dürften, überhaupt noch auf dem Rasen steht.

Das Elfmeterschießen samt seinen Geschichten, Lehren und Tücken füllt inzwischen ganze Bücher. Im September dieses Jahres erscheint ein Werk mit dem Titel «Unter Druck – Was wir aus der Psychologie des Elfmeterschießens fürs Leben lernen können» – das Buch hat 290 Seiten.

England ist nicht allein als Elfmeter-Wackelkandidat, sondern hat inzwischen Gesellschaft. Die Franzosen haben ebenfalls die letzten drei Duelle vom Punkt verloren: die beiden WM-Finals 2006 gegen Italien und 2022 gegen Argentinien sowie das EM-Achtelfinale 2021 gegen die Schweiz.

Trainer Didier Deschamps allerdings sagte: «Es ist unmöglich, die Elfmetersituation im Training zu simulieren.» Psychologisch sei es ein «riesiger Unterschied», ob man im Training, während des Spiels oder nach einer Verlängerung antrete. Wer könnte das besser bezeugen als die leidgeplagten Fußballer aus England.

dpa