Mobiles Menü schließen
Startseite Schlagzeilen

Nagelsmanns Abwehrrisiko: EM-Wagnis mit Dortmund-Charme

Vor diesem Szenario hatten Kritiker Julian Nagelsmann gewarnt. Doppelausfall in der Abwehr und kein erfahrener Ersatz. Der Bundestrainer bleibt vor der K.o.-Phase cool. Er muss jetzt Vertrauen haben.

Auch die Familie von Niclas Füllkrug wird am Dienstag im Teamquartier erwartet.
Foto: Christian Charisius/dpa

Mats Hummels zielte genau mit freiem Oberkörper und in Schlabbershorts, aber der Basketball sprang vom Ring zurück. Kein Treffer. Wenn Julian Nagelsmann nicht Julian Nagelsmann wäre, würde Hummels jetzt keine Urlaubsvideos posten. Er wäre vor dem Achtelfinale der Nationalmannschaft als wichtige Abwehralternative mit viel Erfahrung gesetzt.

Die Fußball-EM ist jedoch kein Turnier im Konjunktiv. Daher geht die DFB-Elf aufgrund der Sperre von Jonathan Tah und der Verletzung von Antonio Rüdiger auf ein Abwehr-Novum zu, das bei Experten und Fans für leichtes Unbehagen sorgt.

Nico Schlotterbeck hat 13 Länderspiele absolviert, während Waldemar Anton zwei Länderspiele bestritten hat. Gemeinsam haben sie null Spielminuten. Am Samstag (21.00 Uhr) werden sie in Dortmund das erste K.o.-Spiel bestreiten, sofern die Muskelzerrung in Rüdigers rechtem Oberschenkel bis dahin nicht geheilt ist. Positive Anzeichen dafür gab es beim von Nagelsmann ausgerufenen Familientag im Home Ground in Herzogenaurach nicht. Pool-Spaß für EM-Profis mit ihren Familien, freiwilliges Athletiktraining für besonders fleißige Spieler und das Warten auf den nächsten Gegner aus Gruppe C am späten Abend waren dort das Tagesprogramm.

Wichtiger als Füllkrug-Frage

Nagelsmanns Abwehrüberlegungen gehen mit der Achtelfinal-Vorbereitung weiter. Ob Niclas Füllkrug oder Kai Havertz als Sturmspitze auf Torejagd geht, wird im Vergleich dazu fast schon zur unerheblichen Personalie. Das bisher bestens gelungene Rollenkonzept des Bundestrainers steht nun mehr als je zuvor auf dem Prüfstand.

DFB-Geschäftsführer Andreas Rettig flüchtete sich bei dem Thema schon ausweichend in lustig gemeinte Phrasen: «So wie ich den Kader vor Augen habe, würden wir trotzdem mit elf spielen und zwei andere aufstellen», sagte er zu Tah-Sperre und Rüdiger-Blessur.

Etwas ernster ist die Lage schon: Zwei junge, unerfahrene Backups auf zentralen Positionen. Das war das Szenario, das Pessimisten bei Nagelsmanns Kaderbildung vorgefühlt hatten. Doch der Bundestrainer gibt sich cool. Sein Kurs steht. Es gab schließlich gute Gründe, Hummels nicht zu nominieren. «Wir haben Vertrauen in den ganzen Kader», lautet einer der Standardsätze des Bundestrainers.

Vertrauen in Schlotterbeck und Anton

Zum letzten Mal erwähnte er ihn, als vorerst nur ein Ersatzmann für den nach der zweiten Gelben Karte gesperrten Tah gesucht wurde. Rüdigers Diagnose stand noch aus. Schlotterbeck oder Anton, war die Frage. «Beide haben da ein Duell. Wir konnten nicht beide heute bringen. Beide haben es verdient, weil sie es gut machen im Training», sagte Nagelsmann nach dem 1:1 gegen die Schweiz, bei dem Schlotterbeck für Tah «ein paar Minuten» sammeln durfte.

Möglicherweise könnte die Antwort lauten: Schlotterbeck und Anton. Und das hat fast schon wieder Charme. Denn Dortmund ist der Spielort. Es ist Schlotterbecks Fußball-Heimat. Und wenn man den Transfer-News Glauben schenken darf, Antons zukünftige. Der heißbegehrte Stuttgarter soll sich für die Borussia als künftigen Club entschieden haben. Einspielen für künftige BVB-Aufgaben im Nationaltrikot vor der Südtribüne, sozusagen. Ein Dortmunder Signal für die Zukunft mit dem Ex-Borussen Hummels nur noch als Strandurlauber.

Das ist die traditionelle Perspektive. Die tatsächliche ist, dass beide bisher noch nie zusammen gespielt haben. Und das auf der Position im Abwehrzentrum, die wie keine andere Automatismen und Absprachen erfordert. «Das ist als Innenverteidiger nicht einfach, denn ein Duo muss sich erst finden. Da muss die Abstimmung stimmen», sagte Ex-Weltmeister und TV-Experte Shkodran Mustafi.

Praktisch keine Turniererfahrung

Realität ist auch, dass es in der jüngeren deutschen Turniergeschichte noch kein unerfahreneres Duo gegeben hat. Anton steht vor seiner Turnierpremiere. Schlotterbeck stand bei großen Turnieren nur beim missglückten WM-Start 2022 gegen Japan (1:2) in der Startelf. Danach zog Ex-Bundestrainer Hansi Flick damals lieber Niklas Süle – einen anderen Dortmunder – in die Zentrale.

In der DFB-Turniergeschichte hat es immer wieder Einzelausfälle von Abwehrchefs gegeben. Auf dem Weg zum letzten EM-Sieg 1996 in England verletzte sich Jürgen Kohler gleich im ersten Spiel gegen Tschechien nach wenigen Minuten. Ersatzmann Markus Babbel wurde nach zwei Gelben Karten schnell gesperrt. Bundestrainer Berti Vogts musste viel rotieren.

Hummels war im EM-Halbfinale 2016 als eingespielter Nebenmann von Weltmeister-Kollege Jérôme Boateng gesperrt. Sein Fehlen beim 0:2 gegen Frankreich war damals wirklich spürbar.

dpa