Stars der Szene fürchten sportliche Nachteile, Weltverband erhofft sich mehr Spannung und bessere Vermarktungschancen.
Neue Biathlon-Regel sorgt für Unmut und Angst vor ungleichem Wettbewerb
Noch nie waren der Ärger über eine Regeländerung und die Angst vor ungleichem Wettbewerb bei Biathletinnen und Biathleten aller Länder so groß wie vor dem Start der neuen Saison. «Am Ende spielt es wieder keine Rolle, was wir Athleten denken», sagte die italienische Gesamtweltcupsiegerin Lisa Vittozzi. Frankreichs zweimaliger Olympiasieger Quentin Fillon Maillet urteilte bei Eurosport: «Wir werden Bedingungen haben, die nicht fair sein werden, außer in Ausnahmefällen.»
Die Stars der Szene sind besorgt über eine Reform der Startgruppen-Regelung vor dem Beginn des Winters am Wochenende in Kontiolahti, Finnland. Der Weltverband IBU hofft hingegen, dass diese Maßnahme mehr Spannung bringt, besonders für Millionen von Fernsehzuschauern. Die Idee dahinter ist, dass die Top-Athleten später im Wettbewerb starten, damit die TV-Fans länger dabei bleiben, um ihre Favoriten zu sehen. Eine längere TV-Präsenz könnte bessere Vermarktungsmöglichkeiten und möglicherweise mehr Geld bedeuten.
«Ich weiß, dass ein Großteil der Biathleten dagegen ist»
Die Top 15 im Gesamtweltcup haben bisher meist die erste Startgruppe gewählt, um die besten Bedingungen auf der frisch präparierten Strecke zu haben. Jetzt müssen sie jedoch auf den Positionen 45 bis 75 in der dritten Gruppe starten. Dadurch wird künstlich Spannung erzeugt, insbesondere wenn sich die Streckenverhältnisse verschlechtern, könnten die Besten der Gesamtwertung benachteiligt sein. Bisher wurden die Rennen oft frühzeitig entschieden, da gegen Ende hauptsächlich die Schwächsten antraten. Auch die Möglichkeit für die Besten, sich aufzuwärmen, wird nun erschwert.
Durchgesetzt wurde die Reform von der IBU – gegen viele Bedenken der Sportlerinnen und Sportler. Entsprechend drastisch waren die Wortmeldungen in den vergangenen Monaten. «Ich weiß, dass ein Großteil der Biathleten dagegen ist», sagte Athletensprecher Sebastian Samuelsson aus Schweden: «Das ist natürlich frustrierend.» Frankreichs Teamchef Stéphane Bouthiaux wurde im «Nordic Magazine» noch deutlicher: «Wir sind komplett gegen dieses neue Startgruppen-System, das total unlogisch ist.» Es wirke so, «als ob sie entschieden hätten, die Besten mit einem Ballast zu belegen, um das Level aller Athleten auszugleichen. Ich finde das komplett skandalös».
Weltverband: Angst ist unbegründet
Die IBU hat das neue System im November und Dezember vier Wettkampfwochen lang als Test deklariert, sagte Mediendirektor Christian Winkler der Deutschen Presse-Agentur. In der kommenden Woche beginnen ab Dienstag die ersten Einzel-Wettbewerbe. Die Angst vor unfairem Wettbewerb sei unbegründet, da es auch Ausnahmen gibt. Bei extremen Streckenbedingungen wird ein alternatives System angewendet, so Winkler. Die Top 15 der aktuellen Gesamtwertung können dann wie bisher zu Beginn des Wettbewerbs starten.
«Die IBU hat volles Verständnis dafür, dass sich die Ansichten der Athleten und die eines Weltverbandes, der für die längerfristige Zukunftsfähigkeit des Sports Sorge trägt, bei Regeländerungen unterscheiden können», sagte Winkler. Die IBU sei zuversichtlich, «ein Startgruppen-System einzuführen, das noch bessere Biathlon-Wettkämpfe garantiert – mit fesselnden Wettkämpfen bis zum Schluss und somit noch größerer Spannung für die Fans zuhause und in den Stadien.» Zugleich würden faire Bedingungen sichergestellt werden.
Superstar Bö befürchtet Verlust von Fans
Ende Dezember solle bewertet werden, ob sich das neue System bewiesen hat. Wenn das nicht klappt, «dann wird man miteinander sprechen und eine andere Lösung finden», sagte Winkler im Podcast «Extrarunde» über einen möglichen Ausweg. Der Versuch sei «ja keine Willkür, sondern wir haben etwas identifiziert, wo wir auch in Richtung Zukunft und Gewohnheiten einer jüngeren Generation einfach interessanter werden wollen».
Superstar Johannes Thingnes Bö aus Norwegen glaubt nicht, dass dieser Plan in den Kerndisziplinen Sprint und Einzel aufgeht. «Es wird das Gegenteil passieren. Wenn die Menschen zum Biathlon schalten und keinen der Besten sehen, werden sie wieder umschalten, und wir werden Zuschauer verlieren», sagte der fünfmalige Olympiasieger dem Sender TV2: «Niemand will ein Rennen 40 Minuten lang schauen, bevor die Top-Athleten schießen. Diesen Aspekt haben wir gegenüber der IBU auch betont.»
Und nicht nur ihn ärgert, dass diese Bedenken nicht gehört wurden. Auch der Deutsche Johannes Kühn, Mitglied im Athletenkomitee, berichtete: «Wir haben ziemlich lang und ziemlich oft Meetings mit der IBU gehabt. Am Ende haben wir aber eigentlich gar nichts bewirkt. Wir haben einen Haufen Zeit verschwendet.» Es sei «sehr schade», dass die IBU zu keinem Kompromiss bereit gewesen sei. «Wir haben viele gute Vorschläge gemacht», sagte Kühn. Die Haltung des Weltverbandes erzürnte auch Frankreichs Boss Bouthiaux: «Ich bin sauer auf die IBU und hoffe, dass es das letzte Mal ist, dass sie eine schlechte Entscheidung treffen.»