Die britische Krankenschwester Lucy Letby wurde wegen des Mords an sieben Babys und versuchten Mords an sieben weiteren zu lebenslanger Haft verurteilt. Doch es gibt wachsende Zweifel an dem Prozess.
Der Fall Letby: Monströse Mordserie oder fatales Fehlurteil?
«Monster auf Station», «Großbritanniens schlimmste Kindermörderin» und «Augen des Bösen»: Als Lucy Letby im August 2023 von einer Jury wegen des Mordes an sieben Babys und des versuchten Mordes weiterer verurteilt wird, überbieten sich die Blätter mit Schlagzeilen. Die inzwischen 35 Jahre alte Kinderkrankenschwester wird zu fünfzehnfach lebenslanger Haft verurteilt, eine Entlassung ist ausgeschlossen.
Allerdings, eineinhalb Jahre nach dem Ende des bemerkenswerten Prozesses, gibt es Zweifel an dem Urteil. Experten kritisieren stark die Beweisführung der Staatsanwaltschaft. Eine Gruppe führender Neonatologen und anderer Experten weltweit behauptet sogar, dass es keinen einzigen Mord gegeben habe.
Korrelation zwischen Todesfällen und der Anwesenheit Letbys
Doch wie konnte es dazu kommen? Die Krankenschwester gerät ins Visier polizeilicher Ermittlungen, nachdem es auf der Intensivstation für Neugeborene des Countess of Chester Hospital im Nordwesten Englands zu einer Häufung an Todesfällen kommt. Es sind Kinder, die teilweise viel zu früh oder unter schwierigen Umständen zur Welt kommen. Im Jahr 2015 sterben acht und in der ersten Hälfte des darauffolgenden Jahres fünf Kinder. In den vier Jahren davor hatte es jeweils nur ein bis drei Todesfälle gegeben.
Obwohl weder Autopsien noch eine externe Untersuchung der Häufung Hinweise auf strafbares Verhalten ergeben, haben zwei Ärzte auf der Station den Verdacht, dass etwas nicht stimmt. Sie bemerken eine verdächtige Korrelation zwischen Todesfällen und der Anwesenheit von Letbys. Die erfahrene Krankenschwester, die oft für andere einspringt, ist regelmäßig anwesend, wenn ein Todesfall eintritt. Die Ärzte glauben, dass das kein Zufall sein kann, und wenden sich zunächst an die Krankenhausverwaltung und dann direkt an die Polizei.
«Operation Hummingbird»
Obwohl Letby niemals auf frischer Tat ertappt wird, nehmen die Ermittler die Vorwürfe ernst und setzen eine Kommission mit dem Namen «Hummingbird» ein. Warnungen eines Statistikexperten vor Schlussfolgerungen auf Grundlage des Dienstplans werden in den Wind geschlagen.
Ein Dokument, das Dienstplan und Todesfälle in Verbindung bringt und den Geschworenen im Gericht als Beweis vorgelegt wird, wird nun als äußerst problematisch angesehen, da es Vorfälle auslässt, während denen Letby nicht arbeitet.
Ein professioneller medizinischer Gerichtsgutachter und Kinderarzt im Ruhestand, der von den Ermittlungen in der Zeitung liest, bietet der Staatsanwaltschaft seine Dienste an. Dr. Dewi Evans will in den medizinischen Akten der gestorbenen Neugeborenen sehr rasch etliche Morde erkennen und wird zum wichtigsten Experten der Anklage. «Ich ging die ganzen Fälle durch und dachte, oh mein Gott, da ist etwas sehr Verdächtiges hier, diese Babys hätten nicht sterben dürfen», sagt er später in einem Interview mit der BBC. Doch ein klarer Beweis fehlt.
Subtile Tötungsmethoden und dämonische Berechnung
Dr. Evans kommt zu dem Schluss, dass die Morde mit äußerst subtilen Methoden und beinahe dämonischer Berechnung begangen worden sein müssen. „Babys wurden Luft in die Blutbahn injiziert oder durch eine Nasensonde in den Magen eingeführt“, stellt er fest. „Insulin wurde in überhöhter Dosis verabreicht oder die Kinder wurden einfach zu Tode gefüttert.“ Letby soll für all dies verantwortlich gewesen sein.
Die Erklärungen von Evans zu den Todesfällen sind unter Experten äußerst umstritten, ja sogar abwegig. Der Mediziner stützt sich hauptsächlich auf eine wissenschaftliche Veröffentlichung über Luftembolien aus dem Jahr 1989, in der Hautverfärbungen beschrieben werden, die an die Todesfälle im Countess-of-Chester-Krankenhaus erinnern. Als einer der Autoren des Papers, Dr. Shoo Lee, ein angesehener Neonatologe aus Kanada, davon erfährt, ist er schockiert. Evans hat seine Erkenntnisse völlig falsch interpretiert.
Jedoch ist es für Letby zu spät. Ihr wird unter anderem zum Verhängnis, dass ihr Anwalt es versäumt hat, eigene Experten vorzubringen. In Großbritannien werden Experten nicht vom Gericht bestellt, sondern von den Anwälten beider Seiten eingebracht. Sie arbeiten auf Honorarbasis. Während des zehn Monate dauernden Prozesses werden von der Verteidigung jedoch nur Letby selbst und ein Klempner als Zeugen aufgerufen, der über Abwasser-Probleme aussagen soll.
«Wir haben keine Morde festgestellt.»
Der emeritierte Professor Lee kann den Fall nicht loslassen. Er ruft ein Gremium von 14 der angesehensten Mediziner und Neonatologie-Experten aus der ganzen Welt zusammen, die sich bereit erklären, Gutachten ohne Bezahlung zu erstellen. Darunter ist auch der deutsche Professor Helmut Hummler, der die European Foundation for the Care of Newborn Infants in München leitet.
Zwei Experten beschäftigen sich mit zwei der 14 Fälle, in denen Letby wegen Mordes oder versuchten Mordes verurteilt wurde. «In beiden Fällen ist das, was da von Seiten der Anklage vorgebracht wurde, aus meiner Sicht nicht zutreffend oder extrem unwahrscheinlich», sagt Hummler im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur über die von ihm in Einsicht genommenen Patientenakten. Es gebe «überhaupt keinen plausiblen Anhalt dafür», dass jemand die Komplikationen absichtlich herbeigeführt habe. In einem der Fälle, bei dem das Kind starb, sehe er andere Probleme, die zum Tod geführt haben.
Lees Gremium kommt in allen 14 Fällen zu diesem Ergebnis. «Wir haben keine Morde festgestellt. In allen Fällen waren Tod oder Verletzung auf natürliche Ursachen oder einfach schlechte medizinische Versorgung zurückzuführen», sagte Lee bei einer Pressekonferenz in London Anfang Februar. Mehr noch: Die Experten stellen in manchen Fällen gravierende Behandlungsfehler durch Ärzte fest und sie bestätigen das Bild einer teils chaotischen Station, deren Mitarbeiter überarbeitet und überfordert waren.
Die Entscheidung über einen neuen Prozess kann Jahre dauern
Zu Letbys Verurteilung führen neben einer Reihe anderer Indizien auch handgeschriebene Notizen, auf denen sie etwa festhielt: «Ich bin böse, ich habe das getan.» Ihre Erklärung, dass sie, mit den Vorwürfen konfrontiert, in psychische Schwierigkeiten geriet und auf Anraten eines Psychologen ihre wirren Gefühle aufschrieb, überzeugen die Jury aber nicht.
Es ist unklar, ob der Fall erneut vor Gericht verhandelt wird. Nachdem alle rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft wurden, hängt ihre letzte Hoffnung nun von einer Justiz-Kommission ab, die darüber entscheiden wird, ob der Fall erneut aufgerollt werden muss. Allerdings könnte dies Jahre dauern.
Die Polizei und die Justiz untersuchen derzeit, warum die verurteilte Serienmörderin Letby nicht früher gestoppt wurde. In diesen Tagen werden die Schlussplädoyers bei einer öffentlichen Untersuchung erwartet. Die Polizei teilte kürzlich mit, dass gegen mehrere Kollegen von Letby wegen fahrlässiger Tötung ermittelt wird. Beide Maßnahmen basieren auf der Annahme, dass ihre Verurteilung rechtmäßig war. Aber was, wenn nicht?