Der Massentourismus macht Venedig auch für kriminelle Banden besonders attraktiv – zumal auch erwischte Täter kaum mit einer Verurteilung rechnen müssen. Jetzt schlägt der Bürgermeister Alarm.
Die Stadt der Kanäle – und Taschendiebe
Man hätte gewarnt sein können. Die Hinweistafeln hängen ja in der ganzen Stadt, am Bahnhof Santa Lucia, auf dem Markusplatz, an den Vaporetto-Anlegestellen, und das in allen möglichen Sprachen. «Attenzione borseggiatori». «Attention pickpockets». «Beware pickpockets». Und «Achtung Taschendiebe» selbstverständlich auch. Aber dann ist das Portemonnaie halt doch nicht mehr in der Hosentasche. So ergeht es in Venedig jeden Tag ein paar Dutzend Urlaubern.
Was den Straftatbestand Taschendiebstahl in der Kriminalitätsstatistik betrifft, kann die italienische Lagunenstadt mit ihren nicht einmal mehr 50.000 Einwohnern problemlos mit Millionenmetropolen mithalten. Vor allem jetzt in der Hauptsaison: Die täglich bis zu 150.000 Besucher aus aller Welt versprechen lohnende Beute. In den engen Gassen sind keineswegs nur Kleinkriminelle aktiv, sondern richtige Banden: Männer, Frauen, Kinder. Und auch sie kommen in der Regel von außerhalb, Tagesbesucher sozusagen.
In Venedig ein altes Problem
Nun ist das Problem mit den geklauten Geldbörsen in Venedig nicht ganz neu. Die Lokalzeitung «Il Gazzettino» klagte schon 1961: «Nessun giorno senza ladri» («Kein Tag ohne Diebe»). Mit dem zunehmenden Tourismus ist es inzwischen aber so schlimm geworden, dass Bürgermeister Luigi Brugnaro jetzt einen Hilferuf an Regierung und Parlament in Rom richtet – was die Venezianer mit ihrem in mehr als anderthalb Jahrtausenden angesammelten Stolz eher ungern tun. Er fordert dringend härtere Gesetze.
Im Polizeirevier gegenüber dem Markusdom kann man einen Eindruck davon bekommen, wie groß das Problem inzwischen ist. Dort befindet sich ein Raum mit 15 schwarzen Säcken voller Taschen und Brieftaschen – allein die Fundstücke aus den vergangenen anderthalb Monaten. Die Diebe werfen in der Regel ihre Beute weg, nachdem sie das Bargeld und die Kreditkarten entnommen haben. An Ausweispapieren haben sie wenig Interesse. Die Portemonnaies werden dann auf dem Pflaster, in Briefkästen, in Gärten oder auch in den Kanälen gefunden.
Die «baby borseggiatori» – die «Baby-Taschendiebe»
Längst handelt es sich dabei um organisierte Kriminalität, das Werk von Banden. Meist sind es Leute vom Festland, aus Städten wie Mailand, die für ihr kriminelles Tagwerk nach Venedig gebracht werden, manchmal eigens in Kleinbussen. Inzwischen werden sogar Kinder im Alter von 12 oder 13 Jahren erwischt – gerade noch unter 14, der Altersgrenze für Strafbarkeit. Man nennt sie «baby borseggiatori»: «Baby-Taschendiebe». Auf Italienisch klingt das natürlich besser und harmloser. Meist kommen sie nach ein paar Stunden auf dem Revier am selben Tag wieder frei.
Santa Lucia, wo die Züge vom Festland ankommen, der Busbahnhof an der Piazzale Roma, die Anlegestellen der Gondeln und anderen Boote sowie die engen Gassen zwischen Rialtobrücke und Markusplatz gelten als besonders gefährliche Gegenden. Manchmal ist es in diesen Tagen dort kaum möglich, durchzukommen. Taschendiebe haben im dichten Gedränge leichtes Spiel. Obwohl die Stadt mehr als 850 Überwachungskameras installiert hat, die Aufnahmen werden auf einer der vielen Inseln in einem rund um die Uhr besetzten Kontrollraum zusammengeführt. Doch oft ist es bereits zu spät, bis die Beamten eintreffen.
Polizeichef: «Große Blase der Straflosigkeit»
Außerdem, und das sorgt aktuell für enorm Ärger, ist die Gefahr, ins Gefängnis zu müssen, auch für erwischte Diebe nicht hoch. Polizeichef Marco Agostini klagte diese Woche in der Tageszeitung «Corriere della Sera» über eine «große Blase der Straflosigkeit». «Weil Taschendiebstähle nur auf Anzeige hin verfolgt werden können. Und wenn der Beraubte nicht zur Verhandlung erscheint, gilt die Anzeige als fallengelassen.» Die meisten Opfer sind Ausländer. Viele reisen am selben Tag wieder ab. So kommt es nur selten zum Prozess. Derzeit sitzen wegen Taschendiebstählen in Venedig gerade einmal vier Häftlinge ein.
Bürgermeister Brugnaro forderte die Politik in Rom deshalb in einem landesweit verbreiteten Appell auf, die Gesetze zu verschärfen. Eine vor einiger Zeit verabschiedete Reform, wonach zahlreiche kleinere Delikte nur noch auf Antrag der Geschädigten verfolgt werden, will er rückgängig machen. Bislang gab es jedoch nur einige kleinere Änderungen; beim Taschendiebstahl blieb alles beim Alten. «Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass solche Delikte zum Alltag gehören», so der Bürgermeister.