Zelte in den Parks, Angst in den Straßen: Mehrere Erdstöße erschüttern Istanbul. Die Lage bleibt angespannt – und die Kritik an der Politik wächst.
Erdbeben in Istanbul – Sehenden Auges in die Katastrophe?
Nach den Erdbeben in Istanbul sind die Bewohner weiterhin geschockt. Viele Menschen verbrachten die Nächte im Freien und schlugen Zelte in Parks oder anderen Grünflächen auf, wie türkische Medien berichteten. Obwohl das Beben keinen größeren Schaden verursachte, wächst die Angst vor einer unvermeidbaren Katastrophe, so Experten.
Am Mittwoch wurde Istanbul von mehreren Erdbeben erschüttert. Um 12.49 Uhr Ortszeit registrierte der Katastrophendienst Afad das bisher stärkste Beben der Stärke 6,2 mit einem Epizentrum im Marmarameer vor der Stadt. Es folgten zahlreiche weitere Erdstöße der Stärken 4 bis 5. Bis zum Abend verzeichnete Afad 184 Nachbeben.
Präsident Recep Tayyip Erdogan erklärte am Mittwochabend: «Unsere Bürger können beruhigt sein. Als Staat werden wir weiterhin rund um die Uhr mit allen unseren Einheiten in Alarmbereitschaft bleiben und für unsere Nation arbeiten, die Situation unter Kontrolle zu haben.»
Istanbul nicht erdbebensicher
Die meisten Bewohner sind jedoch nicht beruhigt. Trotz jahrzehntelanger Warnungen vor einem großen Erdbeben gilt die Metropole am Bosporus, dem am dichtesten besiedelten Gebiet des Landes, als nicht erdbebensicher. Obwohl Programme zur Erneuerung gefährdeter Gebäude vorangetrieben wurden, gelten immer noch mehr als eine Million Gebäude als unsicher, auch vor dem Hintergrund der verheerenden Erdbebenkatastrophe im Südosten des Landes im Jahr 2023.
Experten schätzen, dass das erwartete Großbeben mit einer Magnitude von etwa 7 Zehntausende Menschenleben kosten könnte. Als Ursache wird die mangelhafte Bauweise genannt. Die Türkei befindet sich in einer der seismisch aktivsten Regionen der Welt.
Der inhaftierte und abgesetzte Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoglu, kritisierte am Mittwoch die Regierung dafür, dass sie eine Erneuerung der Stadt versäumt habe. Imamoglu gilt als aussichtsreichster Konkurrent Erdogans bei einer zukünftigen Wahl. Seine Verhaftung im Zusammenhang mit Terror- und Korruptionsvorwürfen wird weithin als politisch motiviert angesehen. Er befindet sich derzeit im Marmaragefängnis in Silivri, wenige Kilometer vom Epizentrum des stärksten Bebens entfernt.
Zwölf Gebäude vorsorglich evakuiert
Gemäß den Angaben des Istanbuler Gouverneursamtes gab es zunächst keine Berichte über eingestürzte Gebäude. Die Bürger wurden aufgefordert, Ruhe zu bewahren und beschädigte Gebäude nicht zu betreten. Verkehrs- und Infrastrukturminister Abdulkadir Uraloglu erklärte auf der Plattform X, dass bei einer ersten Überprüfung keine Schäden an Straßen, Flughäfen, Zügen und U-Bahnen festgestellt wurden. Laut dem Minister für Stadtentwicklung Murat Kurum (AKP) wurden vorsorglich zwölf Gebäude evakuiert.
Das Erdbeben hatte dazu geführt, dass viele Menschen in der Stadt auf die Straße gingen. Laut Berichten des Staatssenders TRT holten die Menschen ihre Angehörigen aus den Krankenhäusern. Es gab Probleme mit dem Telefonnetz und dem Internet. Am Mittwochabend waren viele Flüge aus Istanbul ausgebucht, und es gab stundenlange Staus auf den Straßen.
Experten warnen vor möglichem weiteren Beben
Der Geologe Okan Tüysüz sagte dem Sender NTV, dass es nicht ausgeschlossen werden könne, dass ein weiteres starkes Beben folge. Erdbebenforscher Naci Görür schrieb auf der Plattform X, dass das Hauptbeben noch kommen werde. Die Region ist Teil des Nordanatolischen Verwerfungssystems, einer großen tektonischen Plattengrenze, die für zerstörerische Erdbeben mit vielen Opfern bekannt ist. Die Verwerfung verläuft nur wenige Kilometer vor der Stadt im Marmarameer. Die Stadt liegt teilweise auf ungünstigem Untergrund, da der südwestliche Teil nicht auf festem Grund wie Granit, sondern auf einer ausgetrockneten Lagune liegt.
Das Erdbeben war auch in Teilen Griechenlands deutlich zu spüren. Vor allem im Nordosten entlang des Grenzflusses Evros zur Türkei versetzte es die Menschen in Angst, berichteten griechische Medien. Auch von mehreren Ägäisinseln wie Chios und Lesbos gab es Berichte über die Erdstöße. Es wurden jedoch keine Schäden gemeldet.
Das Erdbeben wurde auch in Bulgarien im Nordwesten gespürt, vor allem in der südöstlichen Grenzregion und in der Gegend von Burgas am Schwarzen Meer, wie das Geophysikalische Institut in Sofia berichtete.