Zwei Erdbeben haben 2023 Antakya in der Türkei verwüstet. Noch immer wird die Stadt von Baustellen beherrscht, die Überlebenden ringen um Normalität. Und die nächste Krise droht bereits.
Feiern im Schutt – Das Leben nach dem Erdbeben in der Türkei
Über Antakya liegt ein Schleier aus Staub, der von der riesigen Baustelle im Zentrum bis in die kleinsten Risse der Stadt reicht. Zwei Jahre nach den verheerenden Erdbeben mit Zehntausenden Toten in der Türkei wandelt man immer noch durch Trümmer in der Altstadt von Antakya – die Stadt von damals scheint verschwunden zu sein. Doch hier und da erwacht sie nachts wieder zum Leben.
Leute wie Dogus Genc sind der Grund dafür. Der 29-Jährige möchte seiner Heimatstadt neues Leben einhauchen und führt eine kleine Tanzbar zwischen den Gassen voller Ruinen. Seine Gäste erleben hier eine andere Welt.
Der Gastronom hatte vor der Wiedereröffnung große Sorge, obwohl das Beben da schon ein Jahr zurücklag. 53.000 Menschen wurden allein in der Türkei durch die Beben am 6. Februar 2023 getötet, in der Provinz Hatay, in der Antakya liegt, starben 24.000 Menschen. «Wir fürchteten, die Leute würden sagen, es sind so viele Menschen gestorben, wie könnt ihr da feiern.» Elf Provinzen waren betroffen, aber keine so sehr wie Hatay.
Die Reaktionen auf die Wiedereröffnung der Rosinante waren euphorisch. Jeden Samstag ist der Laden zur 90er-Party prall gefüllt, die Musik dröhnt bis in die umliegenden Ruinen. Aber noch immer fällt regelmäßig auch der Strom aus. «Dann singen die Gäste», sagt Genc.
Einige Hundert Meter weiter hat auch Cahit Güzelyurt sein Meyhane – ein traditionelles türkisches Gasthaus mit Livemusik – wieder eröffnet. Er versuche auf die Füße zu kommen, berichtet er. Eine Wand des historischen Gebäudes wurde durch das Beben zerstört. Durch diese klauten Diebe alles, «inklusive der Stromkabel», sagt Güzelyurt.
Nun sei das Lokal Serenat zwar wieder hergerichtet, aber so wie damals werde es wohl nie mehr, sagt der Inhaber. «Eine ganze Stadt ist verschwunden. Unsere Gäste sind weg. Viele sind gestorben, andere haben die Stadt verlassen.»
Nicht alle, die geblieben sind, fühlen sich feierlich gestimmt. Viele haben alles verloren und haben keine Möglichkeit mehr auszugehen. Jetzt kommen andere ins Serenat, wie zum Beispiel die zahlreichen Arbeiter, die aus dem ganzen Land in die Stadt gekommen sind, um auf den Baustellen zu arbeiten.
Zwei Jahre nach den Erdbeben gibt es in Antakya kaum noch lebenswerte Orte. Das Zentrum wird von einer riesigen Baustelle dominiert, auf der zahlreiche Kräne, Betonmischer und Rohbauten in die Höhe ragen. Laut Angaben des Gouverneursamts entstehen hier etwa 64.000 neue Wohnungen.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan bezeichnet die Arbeiten in den von den Erdbeben betroffenen elf Provinzen stolz als die «größte Baustelle der Erde». Auf ihr waren im Oktober 2024 dem Präsidenten zufolge 160.000 Menschen beschäftigt.
Laut Mehmet Zencir, Generalsekretär der Türkischen Ärztekammer TTB, stellt die hohe Staubbelastung in Antakya und anderen Orten eine ernsthafte Bedrohung für die Bewohner dar und könnte Krebs verursachen. Zencir prognostiziert auch eine Zunahme von Herz- und Gefäßerkrankungen sowie eine deutlich höhere Anzahl von Atemwegsinfektionen. Menschen, die bereits krank sind, werden durch die Luftverschmutzung zusätzlich geschwächt. Die Regierung wird von Zencir kritisiert, weil sie beim Wiederaufbau unnötig schnell vorgeht und Betonmischanlagen direkt im Zentrum errichtet, um schnell voranzukommen. Die Gesundheit der dort lebenden und arbeitenden Menschen werde dabei vernachlässigt.
Die psychologischen Auswirkungen der Erdbebenkatastrophe haben sich tief in die Menschen eingegraben. Menschen riefen tagelang um Hilfe unter den Trümmern. Mit improvisierten Werkzeugen wie Gabeln, Löffeln und Stöcken gruben sie verzweifelt. Doch bevor die benötigten Maschinen eintrafen, war es für viele bereits zu spät. Die Schreie der Verschütteten wurden schließlich von einem intensiven Verwesungsgeruch abgelöst.
Die Psychologin Elif Özbakan, die in einem Traumazentrum in Antakya arbeitet, berichtet, dass Selbstmordgedanken und -versuche in der Region deutlich häufiger vorkommen. Ebenso habe der Drogenmissbrauch in der Region stark zugenommen. Die Droge Methamphetamin kostet nur 20 türkische Lira – etwa 27 Cent. Beziehungsprobleme sind ebenfalls ein verbreitetes Problem. Paare leben in Containern auf engstem Raum, oft zusammen mit ihren Kindern. Es gibt keinen Rückzugsort für niemanden.
Kaum jemand wagt eine Prognose, wann Antakya wieder aufgebaut wird. Selbst der Besitzer des Serenat in Güzelyurt wirkt resigniert. Er akzeptiert die Gesundheitsrisiken. Die Option, seine Stadt zu verlassen, kommt für ihn nie in Frage – obwohl sie eigentlich nicht mehr existiert.