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Gewalt in der Erziehung: Was eben doch geschadet hat

Klaps, Ohrfeige, Drohung – das waren lange Zeit keine ungewöhnlichen Erziehungsmethoden. Vor 25 Jahren verbietet der Gesetzgeber dann Gewalt in der Erziehung. Was hat das Gesetz bewirkt?

Gut ein Drittel (36,9 Prozent) der Befragten stimmte in einer Umfrage aus diesem Jahr der Aussage «Ein Klaps auf den Hintern hat noch keinem Kind geschadet» zu. (Symbolbild)
Foto: Annette Riedl/dpa

Vor 60 Jahren geht Jörg Fegert, der damals acht Jahre alt ist, nur mit Lederhose in die Grundschule. «Weil es mit einem Rohrstock regelmäßig Schläge auf den Po gab», erzählt der ärztliche Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Ulm. «Damals waren körperliche Züchtigungen in der Schule schon verboten, aber immer noch völlig gang und gäbe.» Und Leder schützt dann eben mehr als Leinen.

Auch zu Hause erleben viele Kinder immer noch körperliche Gewalt: „Eine Ohrfeige für die heruntergefallene Vase oder einen Schlag auf den Hinterkopf, weil Papa oder Mama einfach die Geduld verliert.“ In Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten viel verändert, sagt Fegert.

Am Montag (29. September) vor 25 Jahren billigt der Bundesrat abschließend ein vom Bundestag beschlossenes Gesetz, das gewaltfreie Erziehung als Kinderrecht verankert. «Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig», heißt es nun im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB). Zu Beginn der 1990er Jahre war der Druck auf den Gesetzgeber durch die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN) gewachsen.

Symbolpolitik oder Erfolgsgeschichte? 

Fegert, der damals als Experte im Bundestag angehört wird, erinnert sich: «Die Hälfte des Parlaments war der Auffassung, das ist nur Symbolpolitik und das bringt überhaupt nichts.» Dabei habe sich in Schweden, wo das Schlagen von Kindern bereits 1979 verboten wurde, gezeigt, wie positiv eine Gesetzesänderung wirken könne. Die Festlegung einer Norm habe auch in Deutschland zu einem Umdenken geführt, sagt Fegert.

Schon Jahrzehnte zuvor beginnt ein Umdenken in den 30er- und 40er-Jahren, wie Historiker Till Kössler von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg erklärt. Kinderpsychiater in den USA orientieren sich an den Theorien von Sigmund Freud und rücken die Verletzlichkeit von Kindern in den Fokus.

Die 68er-Bewegung in Deutschland griff Jahrzehnte später diese neue Perspektive auf Erziehung auf und radikalisierte sie, sagt Kössler. In den folgenden Jahren setzte sich zunehmend die Idee durch, Kindern auf Augenhöhe und wertschätzend zu begegnen. «Bis dahin war man eigentlich der Ansicht, dass die Abhärtung des Kindes wichtig ist, um es widerstandsfähig zu machen, um in der Welt zu bestehen», sagt der Historiker.

Anhaltender Stress schädigt Kinderhirne 

Eine vermeintliche Abhärtung hat aber oft schlimme Folgen, erklärt Sibylle Winter, Kinder- und Jugendpsychiaterin an der Charité in Berlin. «Das Kind wird gestresst und bleibt gestresst. Und das bedeutet, dass der Körper und insbesondere eben auch das Gehirn geschädigt werden», sagt sie. 

Bestimmte Hirnfunktionen können sich zurückbilden. Auch bei emotionaler Gewalt, etwa wenn Eltern ihre Kinder regelmäßig anschreien, ihnen drohen oder sie demütigen. Das Hörzentrum im Hirn, der auditive Kortex, könne sich dann zum Beispiel verdünnen. «Der Kortex versucht quasi nicht so doll zu empfinden, um sich zu schützen», sagt Winter. 

Zudem können der Expertin zufolge Verbindungen im Gehirn geschädigt werden – etwa zwischen dem Bereich, der Emotionen abbildet, und der Region, die für die Handlungsplanung verantwortlich ist. «Dann kann ein Kind, wenn es sich ärgert oder Wut hat, nicht mehr wirklich vernünftig überlegen, sondern schlägt einfach zu», sagt Winter. 

Auch die charakterliche Entwicklung der Heranwachsenden sei oft wie ausgebremst: «Das Kind kann kein Selbstbewusstsein entwickeln. Es wird ständig verunsichert», sagt Winter. Auslöser dafür seien Sätze wie: «Wenn du so weitermachst, dann musst du ins Heim.» Oder: «Du schaffst den Schulabschluss nicht, weil du so faul bist.» 

«Klaps auf den Hintern» hält jeder Dritte für angemessen

Der Kinderpsychiater Fegert ist davon überzeugt, dass das Gesetz ein neues Bewusstsein für die Folgen solcher Misshandlungen geschaffen hat. Dennoch gibt es auch heute noch Verbesserungsbedarf. Im April dieses Jahres veröffentlichte das Universitätsklinikum Ulm zusammen mit dem UN-Kinderhilfswerk Unicef die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung zur Akzeptanz körperlicher Gewalt in der Erziehung.

Gut ein Drittel (36,9 Prozent) der Befragten ab 16 Jahren stimmt demnach der Aussage zu, «ein Klaps auf den Hintern hat noch keinem Kind geschadet». Im Jahr 2016 habe dieser Wert noch bei 53,7 Prozent und 2020 bei 52,4 Prozent gelegen. Eine «leichte Ohrfeige» hielten demnach 17,1 Prozent für angebracht. 5,4 Prozent fanden, «eine Tracht Prügel hat noch keinem Kind geschadet» – im Vergleich zu vorherigen Untersuchungen ein Tiefstwert. Auch bei Älteren, die häufiger als Jüngere Körperstrafen in der Erziehung von Kindern befürworten, ist demnach ein Trend weg von der Gewalt zu beobachten.

«Die Zahl derer, denen dann doch mal die Hand ausrutscht, ist höher», sagt Fegert. Zudem sei nicht nur körperliche Gewalt schädlich für die Kinder. «Emotionale Gewalt muss mehr thematisiert werden, damit die Leute verstehen, das ist genauso schlimm. Das macht auch Wunden in der Seele, die für manche bis ins Erwachsenenalter sehr belastend sind.»

Wie sich Geld und Wohnraum auf die Erziehung auswirken können

Wie gut Eltern erziehen, hat unter Umständen auch mit ihren eigenen Lebensumständen zu tun, sagt Alexandra Langmeyer, Forscherin am Deutschen Jugendinstitut. «Wenn Eltern selbst belastet sind, dann geraten sie schnell aus der Ruhe, schimpfen, schreien die Kinder an und sind eben nicht mehr so gelassen, wie sie es eigentlich sein sollten», sagt sie.

Auch spielten etwa finanzielle Nöte oder zu kleiner Wohnraum eine Rolle, wie zuletzt besonders die Corona-Pandemie gezeigt habe. «Als wir Eltern und Kinder in belasteten Lebenslagen befragt haben, kam immer wieder die Wohnsituation zur Sprache.» 

In den betroffenen Familien haben die Eltern nach Langmeyers Erkenntnissen oft keinen Rückzugsort, stellen ihre eigenen Bedürfnisse zurück und schlafen im Wohnzimmer. «Das wirkt sich dann wieder auf die eigene Belastung aus: Ich bin nicht entspannt genug, weil ich keine Ruhe habe, und das beeinflusst auch mein Verhalten gegenüber den Kindern», erklärt die Sozialforscherin. 

Expertin: Eltern müssen sich in ihre Kinder hineinversetzen 

Langmeyer betont, dass es wichtig sei, wenn Eltern gestärkt werden und ein Bewusstsein für die Grundlagen guter Erziehung entwickeln. «Wenn ich nie erfahren habe, was gute Erziehung ist, woher soll ich wissen, wie es geht?», betont Langmeyer. Sie empfiehlt deshalb, sich schon vor der Geburt mit dem Thema auseinanderzusetzen, beispielsweise in Kursen für werdende Eltern.

Auch Kinderpsychiaterin Winter von der Charité wünscht sich mehr Präventionsarbeit: Eltern müssten verstehen, wie sehr sie ihrem Nachwuchs mit Gewalt schadeten. Zudem müssten sie lernen, sich auch in die Perspektive ihrer Kinder hineinzuversetzen, «und nicht nur von ihnen erwarten, dass sie sich an die Welt der Erwachsenen anpassen».

dpa