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Hinter schwedischen Gardinen in Estland

In Schweden platzen die Haftanstalten aus allen Nähten, in Estland ist dagegen so viel Platz wie nirgends sonst in der EU. Das führt zu einem speziellen Deal. Ein Ortsbesuch im Gefängnis von Tartu.

Bis zu 600 Straftäter aus Schweden könnten ab nächstem Jahr nach Tartu kommen.
Foto: Alexander Welscher/dpa

Die Gänge, die zu den Zellen führen, wirken endlos und sind mit schweren Metalltüren verschlossen. Im Inneren sind sie mit Holzmöbeln und Etagenbetten ausgestattet. Der Gefängnistrakt in der zweitgrößten Stadt Estlands, Tartu, ähnelt auf den ersten Blick denen in Haftanstalten anderer Länder. Doch dort gibt es einige Unterschiede – nicht nur die Wände und Türen in hellgelb und violett. Viele Zellen im Gefängnis stehen leer, nur knapp 300 der insgesamt 933 Haftplätze sind belegt. Deshalb sollen hier bald Hunderte Straftäter aus Schweden untergebracht werden.

«Estland hat sehr erfolgreiche Reformen in der Kriminalpolitik durchgeführt, und wir verfügen nun über mehr Gefängnisplätze, als wir für unseren eigenen Bedarf benötigen», sagt der Leiter des estnischen Strafvollzugs, Rait Kuuse, bei einem Ortstermin im 2002 neu eröffneten Gefängnis zu den Hintergründen einer Mitte Juni unterzeichneten Regierungsübereinkunft. Sie sieht die Anmietung von bis zu 400 Zellen durch Schweden vor, in denen insgesamt bis zu 600 Häftlinge untergebracht werden sollen. Die ersten Verlegungen könnten im Herbst kommenden Jahres erfolgen.

Es wird eng in schwedischen Gefängnissen

Laut Eurostat hat Schweden eine der höchsten Haftbelegungsquoten aller EU-Staaten. Im Jahr 2023 lag die Auslastung in Schweden bei 112,6, was bedeutet, dass mehr Straftäter untergebracht werden müssen, als Plätze zur Verfügung stehen. Nur Zypern, Frankreich, Italien und Belgien haben einen größeren Platzmangel. Im Vergleich dazu lag Deutschland mit einem Wert von 81,8 deutlich unter dem EU-Durchschnitt.

Ein Hauptgrund für das Gedränge hinter schwedischen Gardinen liegt in der seit Jahren grassierenden Bandenkriminalität im Land. Rivalisierende Gangs ringen um die Machthoheit auf dem lukrativen Drogenmarkt, sie bekämpfen sich mit gewalttätigen Methoden gegenseitig, was immer wieder zu tödlichen Schüssen und Explosionen vor Mehrfamilienhäusern führt – ein Phänomen, das ganz und gar nicht zu der Vorstellung vom friedlichen Bullerbü-Schweden passen mag.

Die Regierung in Stockholm hat den Gangs bereits vor einiger Zeit den Kampf angesagt. Sie hat schärfere Gesetze eingeführt und der Polizei neue Mittel und Befugnisse gegeben. Ministerpräsident Ulf Kristersson betont immer wieder, dass der Kampf gegen die Gangs nicht schnell gewonnen werden kann, sondern Jahre dauern könnte. Jahre, in denen die Situation in den schwedischen Gefängnissen voraussichtlich weiterhin angespannt bleiben wird.

Des einen Sorgen, des anderen Geschäft?

Deshalb hat Schweden sein Augenmerk auf Estland gerichtet – das Land mit der niedrigsten Belegungsquote (56,2) in der gesamten EU. Die Anzahl der Insassen dort hat sich seit 2010 um mehr als die Hälfte reduziert und ein Rekordtief erreicht. Dies wurde durch Gesetzesänderungen, eine verbesserte Bekämpfung von Kriminalität und Präventionsarbeit erreicht. Estland setzt beispielsweise verstärkt auf elektronische Überwachung und Bewährungsstrafen.

Gegenwärtig sind laut Kuuse nur etwas mehr als die Hälfte der insgesamt rund 3.000 Haftplätze im Land belegt. «Wir haben nicht erwartet, dass die Zahlen so schnell sinken und sind in gewisser Weise ein Opfer unseres eigenen Erfolgs», sagt er. Und so reifte die Idee, die Haftplätze zu vermieten. Estland führte dazu auch Gespräche mit Großbritannien und den Niederlanden. Doch nur mit Schweden kam es zu konkreten Verhandlungen, die in der nun noch von den beiden Parlamenten zu ratifizierenden Regierungsvereinbarung mündeten. 

Für die Bereitstellung von 300 Haftplätzen soll Estland eine Mindestzahlung von 30,6 Millionen Euro pro Jahr erhalten. Schweden muss monatlich 8.500 Euro pro Häftling für jeden weiteren Platz zahlen – das ist laut dem schwedischen Justizminister Gunnar Strömmer immer noch monatlich 3.000 Euro günstiger, als Straftäter in Schweden unterzubringen.

Kuuse betont, dass es dabei nicht nur um Geld gehe. Das Gefängnis in Tartu sei teuer und modern, daher mache ein Abriss der unterbeschäftigten Anlage keinen Sinn, da Estland sie möglicherweise zukünftig benötigen werde. Zudem könne durch die Vermietung der Zellen das Gefängnispersonal in anderen Bereichen der inneren Sicherheit gehalten werden. Der leitende Justizbeamte sieht das Abkommen daher als vorteilhaft für beide Seiten und als eine Art Win-Win-Situation.

Bedenken und Vorbehalte

Nicht alle in Estland und Tartu sind dieser Ansicht. Einige Teile der Bevölkerung und einige lokale Politiker in der knapp 100.000 Einwohner zählenden Universitätsstadt sind besorgt. Ihre Hauptbedenken betreffen den Import von gemeingefährlichen Straftätern, der die innere Sicherheit Estlands gefährden könnte. Die Kritik an Justizministerin Liisa-Ly Pakosta seitens der Opposition war stark. Auch in einer Umfrage sprachen sich mehr Befragte gegen als für das Abkommen mit Schweden aus.

Die Regierungen bemühen sich, diesen Bedenken entgegenzuwirken. Straftäter, die in Schweden wegen Terrorvergehen oder schwerer organisierter Kriminalität verurteilt wurden und daher ein höheres Sicherheitsrisiko darstellen, sollen nicht nach Estland überführt werden. Dies könnte bedeuten, dass verurteilte Gangmitglieder größtenteils in Schweden bleiben sollen. Stattdessen könnten andere erwachsene Männer in Betracht gezogen werden, die beispielsweise wegen Mordes, Sexual- oder Wirtschaftsverbrechen verurteilt wurden.

Estland wird laut Kuuse die von Schweden ausgewählten Gefangenen selbst überprüfen und im Zweifel auch ablehnen können. In Tartu sollen sie keinen Freigang erhalten und auch nicht in Estland entlassen werden, sondern mindestens einen Monat vor Ende ihrer Haftstrafe nach Schweden zurückgeschickt werden. Ein Kontakt mit estnischen Insassen ist ebenfalls nicht geplant. Dies soll verhindern, dass Straftäter in Estland und über die Ostsee hinweg nach Schweden vernetzt werden.

Vergleichbare Haftbedingungen

Ansonsten sollen schwedische Gefangene den gleichen Tagesablauf wie alle anderen Insassen haben und werden eine Zelle wie alle anderen belegen: zehn Quadratmeter groß, Etagenbett, Bad mit Kloschlüssel und teils auch Dusche, Tisch, Stuhl, Regal und Kleiderhaken plus Blick durch ein vergittertes Fenster. Dazu gibt es Gemeinschaftsräume mit TV, Waschmaschine und Kühlschrank. Es besteht eine Arbeitspflicht, für Freizeitaktivitäten stehen Sportanlagen, eine Kunstwerkstatt und ein Musikstudio zur Verfügung. Auch ein Krankenhaus und eine Kirche sind in dem Gefängnis vorhanden, das bisweilen eher an ein streng bewachtes Hostel als an eine Haftanstalt erinnert.

Die Bedingungen und Standards für den Strafvollzug in Estland und Schweden sind laut Kuuse vergleichbar – ein Punkt, der der schwedischen Regierung wichtig ist. Dennoch bestehen weiterhin Herausforderungen, wie die Sprache. Das estnische Gefängnispersonal und die schwedischen Insassen sollen daher auf Englisch miteinander kommunizieren. Auch die Regelungen für Besuche aus der Heimat müssen noch genauer festgelegt werden.

dpa